Uwe Tellkamp: Der Eisvogel – Rezension

41ZghGF3K7L._SL210_Ich sollte vielleicht gleich zugeben, dass ich von Tellkamps Roman ein wenig enttäuscht bin. Gut, der Autor ist ein begnadeter Sprachkünstler mit einem Sinn für Atmosphärenschilderung, Charakterskizzen, stimmige und überraschende Metaphern, ein gelernter Lyriker und bestimmt einer von Rang. Auch die Charaktere die er zeichnet, sind überzeugend, und der Aufbau des Romans – mit einer Tötungsszene einzusteigen und in Rückblenden, den Erzählungen verschiedener Beteiligter, verbunden in einem System kunstvoll verschachtelter Ebenen zu erzählen, wie es dazu gekommen ist – das hat schon was.

Eigentlich sind alle Zutaten für einen großen Roman vorhanden, nur hat Tellkamp den nicht geschrieben. Er deutet nur an, dass er ihn hätte schreiben können, wenn seine Gesellschaftskritik mehr Tiefenschärfe gehabt hätte, und er den Mut, dazu zu stehen.

Ich rekapituliere kurz die Handlung: Der Bankierssohn Wiggo Ritter, der gegen den Willen seines Vaters Philosophie studiert hat und ein brillanter Kopf ist, wird von seinem Professor – wahrscheinlich wegen seiner allzu unkonventionellen Thesen – als „Kryptofaschist“ beschimpft und als Assistent gefeuert, stürzt ab in die Arbeitslosigkeit und kommt nicht mehr auf die Beine. Er begegnet Mauritz Kaltmeister, einem rechten Aktivisten, der eine Terrororganisation aufbaut, um die verlotterte Demokratie zu zerstören und einen Ständestaat zu errichten. Als Ritter sich eines Besseren besinnt, die Sinnlosigkeit von Terrorismus erkennt und sich aus der Organisation zurückziehen möchte, kommt es zum Konflikt mit dem zunehmend fanatischer werdenden Kaltmeister, den Ritter in der Eingangsszene erschießt.

Wie gesagt, die Charakterzeichnungen finde ich überzeugend: Mit dem Protagonisten Ritter kann ich mich geradezu identifizieren: Ein intelligenter Kopf, der erkennt, wie morsch die Gesellschaft ist, in der er lebt, und der die Herrschaft von Dummheit und Lüge als solche durchschaut und darunter leidet – ja, doch, das kommt mir bekannt vor.

Auch die zweite Hauptfigur, der Tatmensch Mauritz, den es um nahezu jeden Preis zur Aktion drängt und dessen Verhältnis zu Wiggo zwischen Respekt und Spott schwankt, finde ich ausgesprochen gelungen. Überhaupt scheint der Konflikt zwischen den aktivistischen Draufgängern und den nachdenklichen Intellektuellen unter Terroristen und solchen, die es werden wollen, ziemlich häufig vorzukommen, man denke an das Verhältnis zwischen Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin.

Tellkamps Problem ist, dass er sich zwar in das Empfinden, aber nicht in das Denken der Hauptfiguren hineinzuversetzen vermag: Die Gesellschaftskritik, die er ihnen in den Mund legt – Materialismus, Oberflächlichkeit, Gier, Angst als Charakteristika des typischen Zeitgenossen – bleibt klischeehaft, flach und unreflektiert, sie passt zu keinem der beiden Charaktere.

Die Strategie, die Mauritz vorschlägt: durch Terror zunächst Verunsicherung zu verbreiten, damit die Menschen sich dann nach starker Autorität sehnen; seine Utopie eines Ständestaats (ein Konzept, das seit Jahrzehnten niemand mehr vertritt, und wäre er noch so reaktionär, und das man deshalb auch keiner Romanfigur andichten kann, ohne unglaubwürdig zu werden) – das wirkt alles hölzern und konstruiert, es wirkt so, wie Linke sich die Rechten vorstellen.

Wenn man dann noch an die völlig unglaubwürdige – und völlig misslungene – Szene denkt, wo Bilderbuch-Glatzennazis mit Baseballschläger und Kampfhund die U-Bahn betreten, um ein arabisches Pärchen zu verprügeln, und daran durch Mauritz‘ heldenhaftes Eingreifen gehindert werden – Tellkamps Figuren müssen offenbar unbedingt noch politisch korrekt am „Kampf gegen Rechts“ teilnehmen – dann ist das nicht nur lächerlich, sondern erschließt dem Leser auch, warum der Autor sich auf genuin konservative Gesellschaftskritik (von faschistischer gar nicht erst zu reden) partout nicht einlassen will, nicht einmal, um sie einer seiner Figuren in den Mund zu legen: weil er Angst hat, als „Rechter“ verdächtigt zu werden – was immer das dann hieße.

So bleibt der Roman l’art pour l’art. Schade eigentlich.

13 Gedanken zu „Uwe Tellkamp: Der Eisvogel – Rezension“

  1. Die Geschichte des Buches klingt ähnlich wie ein kürzlich ausgestrahlter Tatort mit Neonazis.
    Der war jedenfalls furchtbar hölzern. Lange konnte man den nicht anschauen.

  2. Danke für die Rezension – die Schwachstellen des Buches sind leider nicht zu übersehen und auch kaum zu beschönigen. Mir kommt gerade die Nazi-Szene wie nachträglich eingeschoben vor.
    Allerdings sehe ich die grosse Stärke des Buches in den Dialogen (beispielsweise die Gesprächsabschnitte mit dem Bischof), in denen die grundlegenden Probleme unserer Gesellschaft angesprochen werden, welcher Schriftsteller tut das sonst? Vielleicht noch Christian Kracht in verschlüsselter Form.
    Sehr erschütternd ist besonders  die Szene, in der sich Kaltmeisters Großtante an ihren von der RAF ermordeten Mann erinnert – selten wurde der Terror der RAF ohne jede Verharmlosung fühlbar gemacht.
    Nun gut, da ich das Buch empfohlen habe, muss ich natürlich auch der Fürsprecher für Tellkamp bleiben. Nächste Leseempfehlung wäre „Der Turm“, eine schonungslose Abrechnung mit der DDR und stilistisch weiter entwickelt als der „Eisvogel“.
    Man sollte sich zum Schluß natürlich fragen, wie weit man in dieser Zeit mit unkorrekten Themen überhaupt gehen kann. Ich finde, Uwe Tellkamp hat sich so weit aus dem Fenster gelehnt, wie man als Schriftsteller, der sich in den Buchhandlungen wiederfinden will, gehen kann.

  3. Ich glaube, dass dieses merkwürdig unentschiedene Verhältnis des Autors zum Verhalten seiner Romanfiguren wirklich ein Kotau vor der Linkslastigkeit des Feuilletons in Deutschland ist. Die Szene, in denen die Neonazis verprügelt (und ihr Hund brutal totgeschlagen) werden, fand ich ekelhaft, sie gehörte aber vielleicht zur Charakterzeichnung Kaltmeisters als nicht ausschließlich heldenhaft, sondern als brutal und sadistisch dazu. Andererseits haben sein Roman und auch seine Lyrik, die er vorher schrieb, viel Anerkennung von den Etablierten des Literaturbetriebes bekommen und bekommt heute „Der Turm“ noch mehr davon. Das wäre wohl nicht der Fall gewesen, wenn deutlicher geworden wäre, wie Tellkamp wirklich zu der im Roman geschilderten Problematik steht. Ich habe auch linke Rezensionen des Buches gelesen, in denen Tellkamp vorgeworfen wurde (sind Linke eigentlich unfähig oder unwillig, zwischen einem Text und seinem Verfasser zu unterscheiden?), dass sein Roman so „merkwürdig affirmativ“ zum Verhalten der Hauptfiguren stünde – trotz der dem feuilletonistischen Kampf gegen Rechts geschuldeten Einsprengsel.

  4. Ich hab das Buch schonmal vor ein paar Jahren kaufen wollen, bin damals aber noch davor zurückgeschreckt, weil mir manche der behandelten Themen als „Autobahn“ erschienen.
    Tellkamp will ja eine Fortsetzung des „Turms“ schreiben.
    http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,584785,00.html
    Vielleicht greift er dann die Themen aus dem ersten Buch wieder auf, mittlerweile ist er schließlich finanziell und auch reputationsmäßig unabhängiger.

  5. @Thatcher: „sind Linke eigentlich unfähig oder unwillig, zwischen einem Text und seinem Verfasser zu unterscheiden?“
    Ja, das sind sie, da es nur um die „Sache“ geht. Linke kennen nicht die Freiheit, einfach mal den Geist spielen zu lassen oder gar in verschiedene Rollen, auch böse, zu schlüpfen.

  6. @Chripa, ja, es wird höchst interessant werden, wie Tellkamp die Ankunft der DDR-Bürger aus seinem ‚Turm‘  in der bereits stark politkorrekt geprägten BRD-Gesellschaft ab 1989 schildern wird.

  7. In der Tat, die rein literarischen Qualitäten des Romans sind enorm, aber die politische?
    Auf der Basis des Romans allein lässt sich nicht entscheiden, was Tellkamp nun eigentlich hat sagen wollen. Es scheint auch keine Aussage von Tellkamp zu geben, die einen Schlüssel zu seinem Roman liefert.
    Hat er einfach nur einen spannenden Roman schreiben wollen, zu der die politische Dimension einfach nur das Material ist, aus der die Handlung gestrickt wird, dann ist ihm das sicherlich gelungen. Ein politischer Roman muss aber eine konsistente politische Aussage haben, sonst ist er keiner; in seinem Roman ist aber eine solche nicht zu erkennen: das Aufzeigen gesellschaftlicher und politischer Misstände wird konterkariert durch die absurden politischen Ziele und die faschistoide Inhumanität Kaltmeisters einerseits und durch die Unfähigkeit Wiggo Ritters, sein Denken in sinnvolles lebenspraktisches und politisches Handeln umzusetzen, andererseits.
    So bleiben dem Leser nur Spekulationen, warum dieser Roman, der als politischer antritt, aber als pseudopolitischer endet, in seiner inhaltlichen Dimension so verunglückt ist. Träfe die Spekulation die Wahrheit, dass sich Tellkamp nicht getraut hat, konservative Gesellschaftskritik anders zu personalisieren als in den beiden Charakteren Mauritz Kaltmeister und Wiggo Ritter, weil konservative Gesellschaftskritik im derzeitigen Deutschland nur als Ausdruck von Inhumanität und/oder Lebensuntüchtigkeit darstellbar ist, wenn sie am Markt akzeptiert werden will, hieße nun allerdings, dass das Ende einer freien, konservativen, also kritischen Literatur bereits da ist, zumindest von einer Literatur, die ihren Verfassern den Lebensunterhalt sichert. Eine politisch konservative Romanliteratur könnte dann nur als Hobby- oder Untergrundliteratur abseits vom Markt existieren. – Die Parallele zu den konservativen Bloggern, die ihre Brötchen nicht als bezahlte Journalisten oder Publizisten verdienen können, drängt sich auf.

  8. @Before Dawn: Zustimmung, aber man ist heutzutage ja schon mit wenig zufrieden. Uwe Tellkamp ist auf alle Fälle ein interessanter Schriftsteller, auf dessen kommende Bücher ich mich freue.  Vielleicht wissen wir dann mehr.

  9. @ apokryphe:
    Ich wollte Dir Deine Freude an seinen Büchern bestimmt nicht ausreden, und wahrscheinlich neige ich auch dazu, Belletristik so zu lesen und zu kommentieren, als hätte ich es mit Sachbüchern zu tun; ein so stark politik- und gesellschaftsbezogenes Werk wie „Der Eisvogel“ lädt aber auch dazu ein.

  10. Fassen wir also zusammen: Tellkamp’s Leistung besteht mit „Der Eisvogel“ darin, dass er keinen linksdrehenden Gesellschaftsroman geschrieben hat? Naja, immerhin ein Anfang, aber irgendwie auch bezeichnend, dass man das extra herausstellen muss.

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