Europäische „Grundrechtecharta“: der Etikettenschwindel

Die Grundrechtecharta gibt den Bürgern bestenfalls Rechte, die ihnen ohnehin zustehen, aber sie nimmt den Nationen die Souveränität.

Noch vor einem Jahr habe ich die EU-Grundrechtecharta, die Bestandteil des Vertrages von Lissabon ist, für einen bedeutenden Fortschritt gehalten: Bisher klafft ja eine riesige Rechtslücke dort, wo es um den Schutz der Grundrechte von EU-Bürgern geht. Da nämlich das völkerrechtliche Prinzip gilt, dass kein Staat sich unter Berufung auf seine Verfassung seinen Pflichten aus internationalen Verträgen entziehen darf, konnten die Staaten Europas die Rechte ihrer Bürger dadurch umgehen, dass sie deren Verletzung in europäischen Verträgen festschrieben. Waren die erst einmal unter Dach und Fach, standen die Grundrechte nur noch auf dem geduldigen Papier von Verfassungen, die gegenüber den EU-Verträgen niederrangiges Recht darstellten.

Überlegungen dieser Art führten dazu, dass in den neunziger Jahren die Forderung nach einer europäischen Grundrechtecharta laut wurden. In der Tat: Mit der Grundrechtecharta hätten wir Bürger erstmals Abwehrrechte, die wir auch direkt gegen die Union geltend machen könnten. Vor lauter Freude darüber, dass man uns endlich die Rechte zurückgibt, die man uns nie hätte nehmen dürfen, habe ich zwei wichtige Aspekte übersehen:

Erstens bedürfte es dazu überhaupt keiner „europäischen Grundrechte“. Es hätte vollkommen ausgereicht, wenn die EU-Staaten sich auf eine Regelung geeinigt hätten,

wonach kein Einzelstaat durch EU-Recht gezwungen werden kann, auf seinem Territorium Grundrechtseingriffe der Union zu vollstrecken oder zu dulden, die ihm selbst nach Maßgabe der nationalen Verfassung nicht erlaubt sind.

Das wäre eine Art grundrechtsbezogener Meistbegünstigungsklausel gewesen: Jedes Abwehrrecht, dass den Bürgern irgendeines EU-Staates gegen ihren Staat zusteht, stünde dann automatisch allen EU-Bürgern gegen die Union zu. Eine solche Regelung hätte die verfassungsrechtlichen Widersprüche des bisherigen Rechts elegant aus der Welt geschafft, die Verfassungen der Nationalstaaten nicht tangiert, im Gegenteil die Zuständigkeit für den Grundrechtsschutz eindeutig den Einzelstaaten zugewiesen, ohne die EU an der Verfolgung sinnvoller politischer Projekte, sofern es denn solche sind, zu hindern.

Die Charta wäre also im besten Fall ein umständlicher Weg, Gutes zu tun. Leider ist dieser beste Fall nicht eingetreten.

Es ist öffentlich wenig thematisiert worden, leider auch von EU-Skeptikern, dass die Charta Regelungen enthält, die in keiner einzigen einzelstaatlichen Verfassung stehen. Artikel 19 Absatz 1 enthält nämlich die denkwürdige Regelung:

Kollektivausweisungen sind unzulässig.“

Das ist eine Regelung, von der ausschließlich Nicht-EU-Bürger profitieren, und sie ist keine objektivrechtliche Norm, sondern ein subjektivrechtlicher Anspruch. Sie geht damit deutlich über den bisherigen Abschiebeschutz hinaus:

Es ist auch bisher schon so, dass (nach deutschem Recht) bereits das Rechtsstaatsprinzip – Verhältnismäßigkeit, Willkürverbot, Verbot rückwirkender Benachteiligung etc. -, aber auch das Prinzip der Menschenwürde es verbieten, jemanden nur deshalb abzuschieben, weil er einer bestimmten Gruppe angehört. Er muss die Abschiebungsgründe schon durch sein Verhalten selber gesetzt haben.

Wenn aber die Kollektivausweisung als solche bereits ein Verstoß gegen Grundrechte sein soll, dann bedeutet dies, dass, anders als bisher, das Bekenntnis zu einer verfassungsfeindlichen Religion oder Ideologie keine ausreichende Voraussetzung für eine Abschiebung mehr darstellt. Jedenfalls müsste der Nationalstaat die Verfassungswidrigkeit politischer oder religiöser Organisationen von Nicht-EU-Bürgern genauso akribisch beweisen wie die von Inländern. In einem Staat wie Deutschland, der nicht einmal in der Lage ist, die NPD zu verbieten, ein aussichtsloses Unterfangen!

Aber selbst, wenn er sie beweisen könnte, müsste er außerdem noch beweisen, dass er keine Kollektivausweisung vornimmt; dass der konkret Auszuweisende also individuell ein aktiver Verfassungsfeind ist. Die bloße Zugehörigkeit zu einer verfassungsfeindlichen Gruppe würde dann nicht reichen.

Das aus seiner Souveränität folgende Recht des Staates zu bestimmen, welche Nicht-Staatsbürger er auf seinem Territorium dulden will, würde nicht, wie bisher, durch die Verpflichtung auf elementare rechtsstaatliche Regeln gebändigt, sondern im Kern vernichtet!

Rein theoretisch binden solche Regelungen nur die Union selbst – was der Grund ist, warum ich sie bis vor einiger Zeit nicht weiter beachtet habe. Warum sollte es mich interessieren, wenn die EU sich selber etwas verbietet, was sie sowieso nicht tut?

Tja – aber warum steht es dann überhaupt in der Charta?

Weil die Grundrechtecharta für die nationalen Gerichte zwar keine unmittelbare, wohl aber eine auslegungsleitende Wirkung hat. Das Verbot der Kollektivausweisung wird dann nachträglich in nationale Regelungen hineininterpretiert, die man bisher ganz anders interpretiert hat und ohne EU-Charta auch weiterhin anders interpretieren würde.

Ich gebe nicht gerne zu, wenn ich meine Meinung geändert habe, aber diese „Grundrechtscharta“ ist in jeder Hinsicht ein Etikettenschwindel. Ihre Existenz ist nicht nur kein Grund, für Lissabon zu sein, sondern ein erstklassiger Grund dagegen!

8 Gedanken zu „Europäische „Grundrechtecharta“: der Etikettenschwindel“

  1. Hochachtung, Manfred!
    Und von Eisvogel würdest Du jetzt wohl ein dickes (virtuelles) Bussi kriegen, wenn sie noch aktiv wäre…

    Inhaltlich bleibt mir nichts mehr dazu zu sagen; außer, daß der superbe Text Grauslichkeiten bloßgelegt hat, die mir bisher auch noch nicht bewußt waren 😯

    Gruß an alle, ganz besonders die 8dS-Veteranen,
    Deep Roots

  2. Zuzugeben, dass früher vertretene Auffassungen falsch waren, und sich infolge dieser Erkenntnis eine andere Meinung zu bilden, ist eine Eigenschaft, die außerordentlich wenigen Menschen gemeinsam ist. Manfred, Du beweist eine Größe, die die „Großdenker“ in unserer Mediendemokratur alle zusammen nicht besitzen. Respekt!

    Letzte Woche bin ich noch in Streit geraten mit einem unrettbar altersstarrsinnigen CDU-Parteisoldaten, der die ganze konservative Blog-Szene „paranoid“ und „wahnsinnig“ nannte und um keinen Preis der Welt einsehen wollte, dass es für all diese tendenziösen Zerfallserscheinungen unserer Staatlichkeit Verantwortlichkeiten unter den etablierten Parteien – insbesondere nämlich seiner eigenen – gibt.

    Wie wohltuend ist dagegen doch dieser Artikel! Insbesondere angesichts des erfreulichen Einschwenkens auf eine EU-kritische Linie.

    Dass die EU-Grundrechtecharta uns keine Rechte gibt, die wir nicht schon dank unserer Verfassungen hätten und die wir ohne die monströse EU gar nicht bräuchten, machte das Ansinnen von Anfang an suspekt.

    Es gibt so etwas wie einen „Geist der EU-Integration“, der sich in der Gleichschaltung der nationalen Parlamente, der Überhebung über nationale Verfassungen und höchste Gerichte, in der Entmachtung der Souveräne und der Unkontrollierbarkeit der Exekutivorgane ausdrückt. Dieser Geist macht, dass man alles, was aus der EU kommt, mit allergrößter Skepsis betrachten und Haken auch dann vermuten sollte, wenn man sie nicht gleich erkennt. Und dass es diese Grundrechtecharta den angeblich souveränen EU-Staaten unmöglich macht, einen Moslem auszuweisen, weil er Moslem ist und tut, was Moslems so alles Islam-Notorisches tun, gehört zu diesen Tausenden bösartigen kleinen Haken, mit denen ein EU-Bundesstaat, den angeblich ja keiner will, herbeigezwungen werden soll. Wenn die Nationalstaaten irgendwann ganz handlungsunfähig geworden sind, sollen „die Menschen“ (Merkelsprech) nach der EU rufen, die dann umgehend die Grundrechte weiter einschränkt – und zwar für alle, weil das ihre wahre Absicht ist und immer war.

    Bitte tut der Sprachhygiene den Gefallen und achtet konsequent darauf, nicht, wie dies die EU-Loyalisten fast alle tun, „Europa“ zu sagen, wenn die EU gemeint ist. Das Europa, das die EU herbeiführen wird, wenn man sie läßt, ist ein Horrorgebilde und wird den Kontinent ähnlich schlimm verwüsten wie die Weltkriege des XX. Jahrhunderts. Eine wirkliche europäische Einigungsbewegung, die von den Völkern getragen wird, könnte ihre erste Aufgabe darin sehen, die EU zu vernichten.

  3. Der erste Deep-Roots-Kommentar hier. Ich sehe schon: Ich muss weniger gegen den Islam und mehr gegen die EU schreiben, dann kommentiert hier auch die 8dS-Crew!

    😀

  4. @ Manfred: Bingo!
    Nein, kleiner Scherz 😉 – natürlich haben mir auch die islambezogenen Artikel gut gefallen!
    Mir geht’s nur angesichts dessen, was ich so alles tun könnte, sollte, müßte oder möchte, oft wie dem Habicht angesichts eines dichten Starenschwarms, bei dem er sich auf kein einzelnes Opfer fixieren kann. Aber ab und zu ist doch einer der Stare zu langsam, und der Habicht erwischt ihn…

    @ Thatcher: „die Menschen“ (Merkelsprech) – da ist mir spontan Onkel Mo eingefallen, der seine Suren immer mit „O ihr Menschen“ einleitete (statt „O ihr Gläubigen“), wenn er sich an Kuffar wandte statt an seine Anhänger.
    Deinen Sprachhygienevorschlag unterstütze ich von Herzen – ich finde es auch immer befremdlich, wenn man uns EU-Kritiker und -gegner als „Antieuropäer“ bezeichnet, wo man doch die Vertreter der EU-Nomenklatura mit weit mehr Recht so nennen kann, angesichts dessen, was die Europa mit ihrer Verräterpolitik antun.

    Hi, Schlernhexe – Deine Kommentare auf PI habe ich immer gern gelesen!

    Gruß,
    Deep Roots

  5. Das Problem mit der Ablehnung des Lissabonvertrages ist, dass danach immer noch die gleichen Leute regieren. Es ändert nichts.
    Es verhindert nur das die EU aussenpolitisch stärker agieren kann, und das Deutschland in der EU mehr Macht bekommt.
    Ich hoffe das nach Verabschiedung des Vertrages auf EU-Ebene Reformbestrebungen beginnen, ohne das die Nationalstaaten da noch reinreden können. Ich finde man sollte klarstellen was man ändern will, so wie dieser Artikel es tut, anstatt den ganzen Vertrag abzulehnen. Die Grundrechtecharta gehört übrigens nicht zum Vertrag von Lissabon, nicht alle EU-Staaten werden diese Charta übernehmen (siehe Wikipedia).
    Das Problem sind unsere Parteien und Politiker, die sich sowas ausdenken oder zulassen. Es ist eindeutig klar das wir diese Charta nicht brauchen, trotzdem sind alle dafür.

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