Gelesen: Naomi Klein, Die Schock-Strategie

 

„Eine Offenbarung! Naomi Klein hat das wichtigste Buch ihrer Generation geschrieben!“ 

So zumindest lautet eine der Werbebotschaften auf der Umschlagrückseite, und der solchermaßen eingestimmte Leser schlägt das Buch „Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus“ (Frankfurt/M. 2007) in der Erwartung auf, in Naomi Klein wenn schon nicht dem Karl Marx, so doch wenigstens der Rosa Luxemburg der globalisierungskritischen Linken zu begegnen.

Schock-Strategie!!! Katastrophen-Kapitalismus!!! Wer solche Keulen schwingt, geht aufs Ganze: Entweder prägt er Begriffe, die dem Denken einer ganzen Generation die Richtung weisen – so wie „Kalter Krieg“ oder „Clash of Civilizations“ – oder er reiht sich ein in das Heer zweitklassiger Autoren, die mit knalligen Schlagwörtern die Auflage von Büchern hochtreiben, die kurzfristig die Bestsellerlisten verunzieren, um dann dem verdienten Vergessen anheimzufallen.

Um es vorweg zu sagen: Naomi Klein, seit ihrem Buch „No Logo“ einer der Stars der globalisierungskritischen Linken, gehört zur letzteren Kategorie. Man soll eben nichts auf Umschlagtexte geben.

Klein sieht in der „Schock-Strategie“ ein grundlegendes strategisches Muster, dessen Wirkungsweise sie im ersten Kapitel anhand von Foltermethoden der CIA veranschaulicht:

Dabei geht es darum, die Persönlichkeit eines Gefangenen dadurch zu brechen, dass man künstlich einen Zustand der Verwirrung und Desorientierung herbeiführt; die so zerbrochene Persönlichkeit wird dann zur formbaren Masse in der Hand des Folterers.

Nach demselben Muster, so die Autorin, verfahren neoliberale Ökonomen bei der Verwirklichung ihrer Utopie einer freien, d.h. von staatlichen Eingriffen, letztlich vom Staat überhaupt, befreiten Marktwirtschaft.

Ausgehend von Milton Friedmans wirtschaftswissenschaftlicher Fakultät an der Universität Chicago mauserte sich diese Theorie in den sechziger bis achtziger Jahren zur unangefochtenen Hauptströmung der Wirtschaftswissenschaften – unter tatkräftiger Mithilfe rechtslastiger amerikanischer Denkfabriken. Die Weltbank, der Internationale Währungsfonds (IWF) und eine Reihe aufeinanderfolgender amerikanischer Regierungen zwangen jahrzehntelang praktisch jedem krisengeschüttelten Drittweltland, ab 1989 auch Osteuropa, eine entsprechende neoliberale Politik – Deregulierung, Marktöffnung, Privatisierung, Abbau von Sozialleistungen – auf, die USA und Großbritannien praktizierten sie darüberhinaus auch im eigenen Land.

Da eine solche Politik ausschließlich im Interesse der reichsten Gesellschaftsschichten und multinationaler Konzerne liegt, den Interessen der breiten Massen aber zuwiderläuft, lässt sie sich mit den Mitteln normaler demokratischer Politik und als Ergebnis eines gründlichen gesellschaftlichen Diskussionsprozesses nicht durchsetzen.

Vielmehr schafft erst die Schocksituation – vergleichbar der eines gefolterten Gefangenen – einer existenziellen Krise die Voraussetzungen, unter denen eine vorübergehend desorientierte Gesellschaft eine schlagartig vollzogene neoliberale Rosskur über sich ergehen lässt, und selbst dann ist dieses Konzept oft nur mit autoritären, meist diktatorischen Mitteln durchsetzbar. Klein führt hierfür eine Vielzahl von Beispielen an, von Chile mit seinem Militärputsch 1973 bis hin zu Sri Lanka nach dem Tsunami 2004. In allen aufgeführten Fällen ging der autoritär durchgesetzte plötzliche Rückzug des Staates aus der Wirtschaft mit der Verarmung breiter Bevölkerungsschichten einher und vergrößerte sich drastisch die Kluft zwischen Arm und Reich.

Der neueste Trend ist laut Klein die Verselbständigung des „Katastrophen-Kapitalismus“: Die Katastrophen sind nicht mehr nur Gelegenheit bzw. Mittel zum Zwecke der Durchsetzung einer radikalen Marktwirtschaft, sondern haben einen eigenen mächtigen Wirtschaftszweig hervorgebracht, der Sicherheitsdienstleistungen anbietet, mithin an Katastrophen interessiert ist und obendrein die Kernfunktionen des Staates nach und nach an sich reißt. Sollte dieses Modell sich durchsetzen, so Klein, wird die Gesellschaft der Zukunft zerfallen in „Grüne Zonen“ der Sicherheit für die, die sich das leisten können, und „Rote Zonen“ von Anarchie und Chaos für alle Anderen.

Naomi Klein hat zweifellos fleißig recherchiert und Material in beeindruckender Fülle zusammengetragen; darin liegt eine Stärke ihres Buches, und zwar die einzige. Im Übrigen handelt es sich um nicht mehr als eine flott formulierte Streitschrift für Gleichgesinnte, also für Menschen, die in denselben linken Schablonen denken wie die Autorin selbst. Zu einem wirklich herausragenden Werk – und als solches wird es angepriesen – fehlt es ihm an analytischer Tiefe, begrifflicher Präzision, theoretischer Durchdringung, auch an Fairness und Gelassenheit des Urteils, kurz und gut: am geistigen Format.

In einem Siebenhundert-Seiten-Werk über Wirtschaftspolitik kein einziges wirtschaftswissenschaftlich fundiertes Argument, keine einzige ökonomische Analyse unterzubringen ist mehr als nur eine kleine Unterlassungssünde. Eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit der neoliberalen Ökonomie findet nicht statt, eine Analyse des Verhältnisses von Markt und Staat erst recht nicht. Kleins eigener wirtschaftspolitischer Standort lässt sich nur aus Randbemerkungen erschließen, und die werfen kein gutes Licht auf ihre Kompetenz. Wenn sie etwa den ANC dafür kritisiert, dass er nicht die Politik verfolgt, Löhne zu oktroyieren, Preise einzufrieren und Geld zu drucken, so muss man sich fragen, ob Klein wirklich nur mit dem Neoliberalismus in Fehde liegt oder mit der ökonomischen Rationalität schlechthin. Wenn sie die Fortdauer des Nahostkonflikts auf die Interessen der israelischen Sicherheitsindustrie zurückführt, dann wird eine solche vulgärmarxistische Position der Komplexität des Themas wohl kaum gerecht.

Naomi Klein verfolgt in ihrer Argumentation exakt jene „Schock-Strategie“, die sie dem Neoliberalismus zum Vorwurf macht: Zuerst bringt sie den Leser mit morbider Lust am grausamen Detail durch Folterbeschreibungen in antiamerikanische Stimmung, dann bombardiert sie ihn über hunderte von Seiten mit Details, liefert deren Interpretation gleich mit und lässt zumindest dem nicht vorgebildeten Leser keine Chance, sie kritisch zu hinterfragen. Wer so schreibt, will nicht überzeugen, sondern indoktrinieren.

Das ist bedauerlich, weil eine fundierte Auseinandersetzung mit der neoliberalen Ökonomie, also mit der Doktrin der vollständig freien Marktwirtschaft und ihren Gefahren allemal wichtig und lohnend wäre. Der Satz, dass Konkurrenz das Geschäft belebt, gilt auch und gerade auf dem Markt der Ideen, und ein linkes Konzept muss nicht schon deshalb schlecht sein, weil es links ist. Nur muss es eben überhaupt ein Konzept, also fundiert und in sich schlüssig sein. Das ist bei Klein nicht erkennbar. Nicht die Fragen, die sie stellt, sondern die doktrinären Antworten, die sie gibt, machen die „Schock-Strategie“ zu einem ärgerlichen, einem schlechten Buch.

13 Gedanken zu „Gelesen: Naomi Klein, Die Schock-Strategie“

  1. Pingback: Naomi Klein: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus « Manfreds politische Literatur
  2. Ausgehend von(sic!) Milton Friedman, rechtslastige amerikanische Denkfabriken, … Regierungen — wenn man das so liest, also das scheint ja auf einer vollkommen lächerlichen Verschwörungstheorie zu beruhen. Karl Marx hätte es als idealistischen Blödsinn beschimpft und einen Tobsuchtsanfall bekommen. Es entspricht allerdings der allgemein zu beobachtenden Tendenz der heutigen Linken zur Personifikation – womit die Linke in etwa dort angekommen ist, wo der Nazismus bereits einmal war.

    Der hochemotionale Umgang mit der Materie und das ebenso erwähnte Fehlen an analytischer Tiefe, begrifflicher Präzision und theoretischer Durchdringung, umschreibt nur das Fehlen einer Theorie. Man verbleibt auf der Ebene möglicherweise durchaus kritikwürdiger Phänomene, bewertet diese moralisch und regt sich anschliessend über alle Masse auf. Ähnlich argumentiert auch ein gewisser „gewerkschaftsorientierter“ SVR. Das ist allerdings keine Theorie, welche auf einem hochabstrakten Niveau formuliert ist, wie es der Marxismus einmal war.

    Die Linke ist Theorie- und damit Kopflos. Sie hat es in den Jahrzehnten nach Zusammenbruch des marxistischen Glaubens nicht geschafft, auch nur ansatzweise die lichten Höhen zu erreichen, welche Karl Marx bereits vor zwei Jahrhunderten erreichte. Einen neuen Karl Marx hat sie nicht generieren können und sie wird es auch niemals, denn sie ist nur noch für solche Menschen attraktiv, die mit wenig Verstand glänzen und aus dem Bauch heraus urteilen und handeln. Naomi Klein ist genau das, was diese Leute verdienen.

  3. Inwiefern Karl Marx‘ Theorie philosophische Brillanz aufweist, vermag ich nicht zu beurteilen, da ich mich nicht genügend darin auskenne. Doch mich wundert es überhaupt nicht, dass der Marxismus nach Marx keine vergleichbaren Geister mehr hervorgebracht hat. (Bereits die Namensgebung „Marxismus“ verdeutlicht, dass es für jeden Anhänger pure Anmaßung wäre, sich mit dem Übervater messen zu lassen.) Genausowenig hat der Islam nach Mohammed jemanden hervorgebracht, der ihm geistig ebenbürtig gewesen wäre, sondern jeden Ansatz dazu im Keim erstickt – auch das ist folgerichtig gemäß der islamischen Lehre.

    Denn der Kardinalfehler, den sowohl Mohammed als auch Marx machten, ist der gleiche. Beide führten die Vorstellung letztgültiger, absoluter Wahrheit in die Politik ein. Damit wurde es möglich, dass nach alternativen Modellen, nach der Hinterfragung der eigenen Theorie nicht mehr gefragt werden musste (auch gar nicht durfte), sondern statt dessen jeder Andersdenkende zum Abschuss freigegeben wurde. Die Gewalt wurde zum selbstverständlichen und auch theoretisch gerechtfertigten Mittel im politischen Prozess, was denn auch sowohl bei Mohammed („Wer den Islam verläßt, den tötet“) als auch bei Marx („Frieden ist die Abwesenheit von Opposition gegen den Sozialismus“) wörtlich zu finden ist.

    Und wo Gewalt an der Tagesordnung ist, da entstehen keine brillanten theoretischen Konstrukte.

    Es wäre aber hilfreich, zur Kenntnis zu nehmen, dass die konstatierte Theoriefreiheit der Linken Methode hat und damit gerade nicht kopflos vorgeht. Gramsci wollte der marxistischen Revolution kulturell den Boden bereiten, indem er der christlichen Kultur Westeuropas neue moralische Leitsätze entgegenstellte. Und wer sich in den Wirren der heutigen Nach-’68er-Zeit umsieht, der erkennt, dass in der Linken (insbesondere bei den Grünen) tatsächlich fast überall quasi-religiöse Moralkodizes Einzug gehalten haben (Ökologismus, gesunde Ernährung, Anti-Atomkraft-Bewegung, „Verständnis“ für Verbrecher aller Art, multikulturelle Allestoleranz etc.), die mit einem vernünftigen, tragfähigen Politikkonzept rein gar nichts mehr zu tun haben müssen. Sie sind reine Krawallmacher, deren Aktionen propagandistisch zu verstehen sind und die Menschen für die marxistische Revolution geistig sturmreif machen sollen. Diese Linken sind mitnichten verblödet; sie tun nur so, um ihre Anhänger allmählich zu verblöden – und dann zuschlagen zu können.

    Nur: sie irren sich. Nicht in bezug auf die kommende Revolution, die ihre verdummende Propaganda tatsächlich extrem befördert haben wird. Sondern darin, dass diese Revolution keine marxistische, sondern eine islamische sein wird. Das werden insbesondere die Linken schmerzlich spüren. Dankbarkeit ist die Sache des Islam nicht. Man hätte aus dem Schicksal der iranischen Tudeh-Partei lernen können – aber man zog es vor, so weiterzumachen wie bisher. Die Westeuropäer mit ihrer Schuldkultur ließen sich von den Gramscianern beeindrucken, aber an den moslemischen Einwanderern prallt die pseudomoralische Propaganda einfach ab. Damit haben sie nicht gerechnet.

  4. „Das Kapital“ hab ich nie gelesen, wahrscheinlich bin ich da in guter Gesellschaft mit den meisten, die sich als „Links“ bezeichnen.

    Soweit ich weiß, hat sich Marx ja eher als Analyst der bestehenden Zustände gesehen und den Kaptitalismus sowie die Bourgoisie eher als Motoren der gesellschaftlichen Veränderungen beschrieben.

    Weiß jemand, woher dann seine Epigonen Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot usw. sich dazu berechtigt fühlten, alles, was sie für irgendwie „bourgois“ hielten, auszurotten?

    Ganz naiv hätte sich der Kapitalismus – nach Marx – ja ganz von allein abgeschafft.

    Vielleicht kann mir jemand gedanklich auf die Sprünge helfen.

  5. @Thatcher, ich habs in Deinem Artikel erst vorhin gelesen
    „Marx (”Frieden ist die Abwesenheit von Opposition gegen den Sozialismus”) wörtlich zu finden ist.“ – auf welche Gesellschaftsform bezieht Marx diese Aussage?

    Seltsame Ironie der Geschichte; das was Marx voraussagen wollte, das scheint sich zumindest in den westlichen Ländern tatsächlich abzuspielen: traditionelle Werte und Bindungen lösen sich auf, zugunsten einer ziemlich platten, vulgär-materialistischen Einstellung zum Leben.

    Ich hab das Gefühl, daß viele Leute so etwas unterschwellig auch spüren. Nur die Analyse des Zustandes, die sich heute „Globalisierungskritik“ nennt, kommt zu den gleichen Fehlschlüssen, wie alle Generationen der linken Denke vorher.

    Könnte das einer der Gründe für den Erfolg der Anti-Globalisierungsbewegung sein? Lieber eine falsche Antwort, als gar keine?

  6. „Könnte das einer der Gründe für den Erfolg der Anti-Globalisierungsbewegung sein? Lieber eine falsche Antwort, als gar keine?“

    Das könnte gut sein. Das Links-sein entpuppt sich, nachdem die wissenschaftliche Fassade des Marxismus weggefallen ist, als die säkulare Religion, die es im Kern immer war, und bei der es darum geht, auf der Seite des „Guten“ gegen das „Böse“ zu kämpfen. Eine Analyse ist dabei eher hinderlich. Es stimmt ja, dass Marx und Engels die Rolle der Bourgeoisie positiv aufgefasst und den Kapitalismus als Durchgangsstadium gesehen haben, in dem sich die traditionellen Bindungen auflösen, um dann den neuen Bindungen einer höheren Gesellschaftsform Platz zu machen.

    Das hat sich als Illusion erwiesen, aber das hindert die Globalisierungskritiker nicht daran, trotzdem an diese Utopie zu glauben. Wenn sie sich damit durchsetzen, also die bestehende Gesellschaft zerstören, siegt in der Tat nicht der Kommunismus, sondern der Islam.

    Dabei kann man die Theorie von Marx durchaus noch produktiv anwenden, wenigstens in Teilen. Ich habe aber noch nie einen Marxisten erlebt, der das tatsächlich tut. Ich selbst bin froh, dass ich mein Denken vor langer Zeit auch an Marx geschult und noch etliche marxistische Theoreme in meinem geistigen Werkzeugkasten habe. Und genauso froh bin ich, dass ich mich nie in die sklavische Abhängigkeit des Dogmatikers begeben habe, nie „Marxist“ gewesen bin.

    Das Zitat ”Frieden ist die Abwesenheit von Opposition gegen den Sozialismus” ist mir auch nicht bekannt. Ehrlich gesagt, Thatcher: Ich glaube nicht, dass es von Marx selbst stammt. Aber es umschreibt ziemlich genau die Haltung der Marxisten.

  7. „The Meaning of Peace is the Absence of Opposition to Socialism“.

    Dieses Zitat wird im Internet ausschließlich Karl Marx zugeordnet, aber es wird keine schriftliche Quelle genannt, wo man es in Marx‘ Schriften tatsächlich finden könnte. Wie gesagt, ich kenne die Schriften Marx‘ zu wenig, um es besser zu wissen. Doch es könnte natürlich auch sein, dass es ein mündlich überliefertes Zitat ist; vergleichbar einer „Marx-Hadithe“.

  8. Den Islam und insbesondere die angebliche hochpriore Bedrohung westlicher Gesellschaften durch denselben, möchte ich gerne aus der Diskussion lassen. Das bringt nichts. Insbesondere nicht in Zeiten des Einzugs der Stasipartei in westdeutsche Parlamente und damit der nicht allein in Hessen zu beobachtenden Beschädigung effizienter Regierungsbildung.

    Einige interessiert aus dem Kontext gerissene Thesen Gramscis spielten Ende des 1970er bei einer Minderheit übrig gebliebener Linker eine ganz spezielle Rolle. Heute dagegen kaum noch. Heutzutage existiert überhaupt kein Plan und auch keine Verschwörung von Rädelsführern, „um ihre Anhänger allmählich zu verblöden – und dann zuschlagen zu können“. Alles bildet sich „kopflos“, dh. spontan, ungesteuert, ohne jeglichen theoretischen Bezugsrahmen, jedenfalls unvergleichbar zu früheren Dominanz des Marxismus, heraus und genau das ist die Pointe.

    Die Erfahrung, dass Moralisieren und der persönliche Angriff auf dem Hintergrund einer als nicht weiter hinterfragbar angenommenen Moral, hocheffiziente Methoden zur Durchsetzung des ureigener Machtgelüste sind, ist eine elementare, die ein jeder macht und dazu weder von Personen noch Theorien angeleitet werden muss. Auch die alten Marxisten hätten ohne weiteres auf solche Methoden zurückgreifen können. Auch in Gestalt der hochemotionalen Rosa Luxemburg taten sie es auch gelegentlich; nicht jedoch generell und schon gar nicht intellektuell, da das rationale Substrat des Marxismus ein wirksames Korrektiv bildete.

    Es ist ja die Pointe, dass heutzutage das Korrektiv in Gestalt einer integralen konsistenten Theorie fehlt. Der Marxismus verhinderte wirksam exakt die heute zu beobachtenden Phänomene der a) Personifikation des Imperialismus mit konkreten Nationen, b) der Dominanz verschwörungstheoretischer Deutungen („rechtslastige amerikanische Denkfabriken“), als auch c) das damit eng verwandte Herabbrechen der Auseinandersetzung auf die Ebene persönlicher Diffamierung.

    Ich beobachte es momentan am Beispiel eines hervorragend verfassten wirtschaftspolitischen Beitrags, welcher empirische Daten konsistent im Rahmen einer allgemein akzeptierten wirtschaftswissenschaftlichen Theorie interpretiert. Auf die gesamte Komplexität desselben reagiert der Kommentator mit exakt einer Unterstellung, wonach der Autor die unteren sozialen Schichten noch weiter benachteiligen wolle, womit die Ebene persönlicher Diffamierung erreicht ist. Weder erfährt die zugrundeliegende Moral der Thematisierung, noch die schlussendlich isolationistische und neonationalistische Perspektive der BRD als einsame Insel sozialer Gerechtigkeit inmitten eines kapitalistischen Haifischozeans. So tief hat der Kommentatur auch niemals über das letzte Ende seines Wollens nachgedacht. Im weiteren Verlauf wird der Kommentator den Autor dann noch in die verschwörungstheoretischen Deutungen einreihen, so dass insgesamt das Bild einer ohne sozioökonomische und damit rationale Begründung in Böse und Gute zweigeteilten Gesellschaft erreicht wird. Der Bezug zur wirtschaftswissenschaftlichen Theorie findet gar nicht erst statt. Eine solche existiert anscheinend auch nur in Gestalt von moralisch als „gut“ betrachteten infantilen Willensbekundungen. Ähnlich des Falls des Juso Vorsitzenden, würde Manfred sicherlich wieder mit der infantilen Gesellschaft antworten.

    Die Herangehensweise des Marxisten ist davon grundlegend verschieden. Er hätte die vom Autor erwähnten empirischen Daten ebenfalls konsistent im Rahmen einer offenliegenden alternativen wirtschaftswissenschaftlichen Theorie interpretiert. Er hätte bisweilen auch ideologiekritische Betrachtungen aufgestellt. Derart hätte er auch das erkenntnisleitende Interesse thematisiert, allerdings nicht ein solches rechtslastiger Think Tanks oder gar Personen, sondern sozialer Klassen und deren notwendiges Wirken innerhalb der Bewegungsgesetze gesellschaftlicher Entwicklung. Der Mensch ist für den Marxisten schliesslich das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse.

    Daraus hätte sich dann sicherlich eine hitzige Kontroverse ergeben, welche man mit dem Bewusstsein verlassen hätte, dass man es auf der gegnerischen Seite mit einer längst widerlegten, vollkommen anachronistischen Theorienbildung zu tun hat, während der Marxist umgekehrt die Diskussion mit dem Bewusstsein verlassen hätte, dass sein proletarischer Klassenstandpunkt der überlegene wäre. Allerdings hätte man auf dieser Grundlage mit dem Marxisten tatsächlich ernsthaft und sinnvoll diskutieren können. So allerdings, wie die Karten heute gemischt sind, kann man nicht diskutieren, denn es geht dem Kontrahenten auch nicht um die Diskussion, sondern um den Angriff. Ich vermute das weitgehende Wirken eines zugrundeliegenden Bündels tiefsitzender gesellschaftlicher Ursachen, deren politische Gestalt reiner Schein ist. Über einen Wirkkomplex kann man hier mehr lesen:

  9. @Emmett Grogan: Danke für diese Erklärung der marxistischen Theorie. So gesehen wäre es eine konsequente Fortsetzung der Gedanken der Aufklärung, die ein von Dir beschriebener Marxist da betreiben würde.

    Über Karl Marx kann ich nicht urteilen, ich habe nichts von ihm gelesen. Mir drängt sich ein Vergleich mit den Ideen des Rabbi Jeshua auf, der als Jesus von Nazareth auch zur Begründung des übelsten Antisemitismus christlicher Fanatiker herhalten musste.

    Seltsam seltsam, daß man mit gut gemeinten Ideen genau das Gegenteil bei seinen Groupies auslösen kann ….

    Ansonsten ein großes Dankeschön für Deine schöne Pointe:

    a) Personifikation des Imperialismus mit konkreten Nationen,
    b) Dominanz verschwörungstheoretischer Deutungen (”rechtslastige amerikanische Denkfabriken”)
    c) das damit eng verwandte Herabbrechen der Auseinandersetzung auf die Ebene persönlicher Diffamierung.

    … eine wunderbare Beschreibung des heutigen Irrsinns.

  10. Ob man freilich mit Marxisten sinnvoll diskutieren kann, steht auf einem anderen Blatt. Mit den Koryphäen gewiss, aber Ottonormalmarxist ist ein verbohrter dogmatischer Rechthaber. Ich spreche aus Erfahrung.

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