Warum das Christentum zur Demokratie passt, der Islam aber nicht. Teil II: Islam

Im ersten Teil habe ich die These entwickelt, dass der Liberalismus als Voraussetzung der Demokratie und überhaupt der Moderne nur von einer christlich geprägten Zivilisation hervorgebracht werden konnte, weil der Widerspruch zwischen der Religion und ihren eigenen Glaubensgrundlagen so nur im Christentum existiert. Das bedeutet aber nicht, dass er als politische Philosophie nicht exportierbar wäre. Historisch-empirisch basiert der Liberalismus zwar auf dem Christentum, theoretisch aber nicht; er lässt sich auch von ganz irreligiösen Ausgangspunkten her rational erschließen.

Indien zum Beispiel ist nicht christlich, sondern hinduistisch geprägt; ungeachtet dessen ist es seit seiner Unabhängigkeit die größte Demokratie der Welt. Offensichtlich ist die Demokratie mit einer auf dem Hinduismus basierenden Kultur vereinbar. Warum das so ist? Nun, ich bin kein Fachmann für Hinduismus, und wer mehr als ich von Indologie versteht, möge mich korrigieren, aber es scheint mir plausibel, dass der Pluralismus nicht nur der Götterwelt, sondern auch der Theologie des Hinduismus, die keine ausgearbeitete allgemeinverbindliche „Lehre“ kennt, günstige Voraussetzungen sind.

Nichtchristliche Kulturen können also durchaus mit demokratischen Werten kompatibel sein, sie müssen es aber nicht, und es scheint mir mehr als nur ein beredtes Detail zu sein, dass der hinduistische Teil des ehemaligen Britisch-Indien eine stabile Demokratie hervorgebracht hat, der islamische – Pakistan – aber nicht.

Ich vertrete die These, dass der Islam in genau denjenigen Punkten, die für das Verhältnis zur Demokratie entscheidend sind, nicht einfach eine andere Religion ist als das Christentum, sondern dessen Gegenteil:

Muslime führen die innere Widerspruchsfreiheit ihrer Religion gerne als Beleg für ihre „Wahrheit“ an. Scheinbar ein starkes Argument – solange man sich nicht vergegenwärtigt, dass man es auch zugunsten des Stalinismus ins Feld führen könnte. Gedankensysteme, die auf fiktiven, zumindest aber nicht überprüfbaren Ausgangspunkten beruhen (in diesem Fall auf der Idee, Gott selbst sei der Autor des Koran), haben eine starke Tendenz, sich zu Wahnsystemen zu entwickeln, die in sich dann in der Tat so stimmig sind, wie es auch das Weltbild eines Paranoikers ist.

Die innere Schlüssigkeit der islamischen Lehre beruht darauf, dass ihr der für das Christentum charakteristische Widerspruch von Glaube und Religion fremd ist. Der Islam ist von vornherein konsequent und kompromisslos als Religion, das heißt als soziales System, konzipiert:

Die koranische Ethik ist eine Handlungsethik. Eine Tat gilt als gut, wenn sie mit dem Koran in seiner allgemein akzeptierten Auslegung übereinstimmt. Sonst ist sie schlecht. Die fünf Säulen des Islam: Glaubensbekenntnis, Gebet, Wallfahrt, Fasten und Armensteuer betreffen Tathandlungen. Auf die innere Haltung, deren Betonung für das Christentum so kennzeichnend ist, kommt es dabei letztlich nicht an. Hingabe („Islam“) an den Willen Allahs wird als innere Haltung zwar vorausgesetzt, aber gemessen wird sie an der Tat.

Damit ist keine Abwertung dieser Ethik verbunden: Nicht nur, weil eine Handlungsethik allemal besser ist als gar keine – sie hat auch ein deutlich höheres Maß an Verbindlichkeit. Ein Muslim könnte zutreffend darauf verweisen, dass die christliche Maxime: „Liebe – und tu, was Du willst“ das Sozialverhalten des Einzelnen letztlich in dessen Ermessen (man könnte auch sagen: seine Willkür) stellt, dass eine soziale Kontrolle jedenfalls fehlt, und dass das Christentum gerade deswegen gezwungen war, eine soziale Kontrollinstanz – die Kirche – gleichsam durch die Hintertür wieder einzuführen. Wir Muslime, könnte er zu Recht sagen, sparen uns diese Umwege und Paradoxien.

Diese Kritik ist nicht von der Hand zu weisen, und es gibt auch viele Christen, denen meine Interpretation der christlichen Ethik allzu individualistisch und liberal (um nicht zu sagen: windig) vorkommen dürfte, und die ebenfalls die handlungsethischen Momente der christlichen Lehre betonen; bezeichnenderweise umso stärker, je näher sie dem fundamentalistischen Lager ihrer jeweiligen Konfession stehen.

Das Problem besteht auch nicht in der Handlungsethik als solcher: Was sollte schon verkehrt daran sein, Gutes zu tun, egal aus welchen Motiven? Nicht darin liegt das Problem, sondern darin, dass im Islam die Maßstäbe für gutes und schlechtes, erlaubtes und unerlaubtes Handeln gleich mitgeliefert werden, und zwar nicht etwa in Form allgemeiner Richtlinien (wie etwa den zehn Geboten), sondern höchst konkret und detailliert. Koran und Hadith, in Verbindung mit einer fast 1400jährigen Auslegungstradition regeln das Sozialverhalten in allen Lebensbereichen, einschließlich der Politik, und dies faktisch unabänderlich.

Dass ein demokratisch gewählter Gesetzgeber hier nicht viel zu bestellen hat, ergibt sich daraus nicht nur als theoretische Überlegung, sondern lässt sich auch empirisch belegen: Die iranische Staatsdoktrin beispielsweise geht davon aus, dass das Volk (bis zur Wiederkehr des Verborgenen Imam) im Prinzip durchaus das Recht auf Selbstregierung hat – freilich nur, soweit es dabei nicht gegen die Scharia verstößt; über deren Einhaltung wacht wiederum der schiitische Klerus. Wer die Machtverhältnisse im Iran kennt, weiß, dass unter dieser Einschränkung vom demokratischen Prinzip kaum etwas übriggeblieben ist. (Dies ist umso bemerkenswerter, als der schiitische Islam um einiges undogmatischer ist als der sunnitische: Während für die Sunna der einmal – und sei es vor tausend Jahren – gefundene Konsens der Rechtsgelehrten bis zum Jüngsten Gericht verbindlich ist, lässt die Schia Weiterentwicklungen zu, in der Theorie zumindest. In der Praxis ist durch Koran und Hadith ein so engmaschiges Netz an Vorgaben geknüpft worden, dass an so etwas wie eine Liberalisierung kaum zu denken ist.)

Damit unterscheidet sich die islamische Ethik von der christlichen nicht erst ihrem konkreten Inhalt, sondern bereits ihrem Prinzip nach, d.h. in den Grundannahmen darüber, was Ethik überhaupt ist. Dies ist entscheidend, und ich unterstreiche nochmals, dass solche Grundannahmen das gesamte Denken innerhalb einer Kultur vor-formen; dass solche ursprünglich theologischen Denkmuster sich in der vorherrschenden Mentalität und Weltauffassung einer Kultur niederschlagen; dass die Analyse dieser theologischen Denkmuster daher den Schlüssel zu deren Verständnis liefert; und dass Argumente des Kalibers „Die meisten Türken/Araber/Perser gehen doch sowieso nicht in die Moschee, was haben die mit dem Koran zu tun?“ daher völlig irrelevant sind.

Ich hatte in Teil I gezeigt, dass Christus seine Ethik bewusst in Form scheinbar unerfüllbarer Forderungen formulierte, die erst durch die Bezugnahme auf die Liebe als grundlegender Form des individuellen Weltbezuges ihren Sinn bekommen. Hier gelten keine konkreten Handlungsanweisungen; der Christ darf eine autonome Entscheidung treffen, er muss es sogar, und er muss sie vor Gott und seinem Gewissen verantworten.

Die islamische Ethik dagegen geht davon aus, dass es für den Einzelnen nichts zu entscheiden, sondern lediglich etwas zu erkennen gibt – den Willen Allahs nämlich. Die Form des Weltbezuges ist mithin nicht die Liebe, sondern der Gehorsam. (Um ein denkbares Missverständnis auszuschließen: Ich behaupte damit keineswegs den Unsinn, dass es für Muslime so etwas wie Nächstenliebe nicht gäbe, sondern lediglich, dass die islamische Ethik nicht darauf beruht.).

Eine freie Entscheidung bleibt dem Menschen freilich: die Entscheidung für oder gegen den Willen Gottes, also die zwischen Gut und Böse.

Dieser Gegensatz zwischen dem christlichen Prinzip der ethischen Autonomie und dem islamischen der ethischen Heteronomie (=Fremdbestimmung) führt zwischen beiden Kulturkreisen zu einem Gegensatz der politischen Grundwerte, der schroffer kaum sein könnte: Die individuelle Freiheit, auf die wir so stolz sind, ist aus islamischer Sicht kein positiver Wert; sie kann es nicht sein, weil man aus islamischer Sicht Freiheit lediglich als die Freiheit auffassen kann, sich gegen Allah zu entscheiden und Böses zu tun. Eine liberale, demokratische Ordnung, die solche Freiheit garantiert, ist aus dieser Perspektive nicht nur nicht erstrebens- oder erhaltenswert, sie ist moralisch minderwertig.

Es ist dies die logische Konsequenz aus dem Grundcharakter des Islam, wesentlich ein soziales System zu sein. Die Gesellschaft wird hier nicht vom Einzelnen her betrachtet, sondern umgekehrt der Einzelne von der Gesellschaft her, in deren – von Gott gegebenes – Regelwerk er sich einzufügen hat. Die Parallele zu modernen totalitären Denksystemen ist offenkundig. Rechte kann der Einzelne nur so weit geltend machen, wie er sich in diesen Rahmen einfügt (und dies gilt, da der Koran von Allah gegeben wurde, für alle Menschen, nicht etwa nur für Muslime). Er muss also entweder selbst Muslim sein und sich schariakonform verhalten – oder einen Dhimmi-Status haben, also als Christ oder Jude in einem normalerweise höchst diskriminierenden Vertragsverhältnis zur islamischen Umma stehen. Wer außerhalb der islamischen Regeln steht, ist rechtlos und hat keinen Anspruch auf Respekt, im Prinzip nicht einmal das Recht auf Leben. Dies beginnt bei unverschleierten Frauen, setzt sich fort bei unbotmäßigen Karikaturisten und geht bis hin zu Staaten, wenn sie, wie Israel, in der falschen Gegend liegen; die Gründung des Staates Israel war eine eigenmächtige Aufhebung des Dhimmi-Status seitens der Juden und ein Einbruch in das „Haus des Islam“ (s.u.), was nach islamischem Recht die Muslime nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, diese zu bekämpfen. Und wer da glauben sollte, die Rechtlosigkeit der „Ungläubigen“ sei auf Frauen, Karikaturisten und den Staat Israel beschränkt (und das womöglich nicht so schlimm findet…) ignoriert die kulturellen Grundlagen der islamischen Unduldsamkeit. Die ganze Denkweise „Frauen müssen ja auch nicht so aufreizend herumlaufen, Karikaturisten sollten auch Rücksicht auf religiöse Gefühle nehmen, die Israelis könnten sich ja auch ein wenig zurückhalten“, ignoriert, dass für die Gegenseite nicht der eventuelle Missbrauch von Rechten seitens der „Ungläubigen“ anstößig ist, sondern die Tatsache, dass sie überhaupt irgendwelche Rechte jenseits der Scharia beanspruchen.

(Es ist eine nicht totzukriegende Legende, dass der Islam zumindest gegenüber Juden und Christen „tolerant“ sei – oder zumindest im Mittelalter gewesen sei. Wer sich für dieses Thema interessiert, dem empfehle ich die Texte von Bat Ye’or und Egon Flaig.)

Wohlmeinende Westler, die mehr „Respekt für den Islam“ einfordern, verkennen, dass sie Respekt für eine Religion fordern, die auf der prinzipiellen Nichtrespektierung jeder anderen Religion beruht. Ein Muslim, der denselben Respekt für das Christentum oder gar die liberale westliche Zivilisation forderte, würde die universelle soziale Verbindlichkeit des Koran anzweifeln und damit im Grunde aufhören, Muslim zu sein.

Vor Gott gerechtfertigt, daran lässt der Koran keinen Zweifel, ist allein der Muslim; alle anderen sind zur Hölle verdammt. Diesen Heilsexklusivismus kennt zwar auch das Christentum („Extra ecclesiam nulla salus“), aber wir hatten bereits in Teil I gesehen, dass es sich dabei um die im engeren Sinne religiöse, also kirchliche Seite des Christentums handelt, die im Widerspruch zum Kern des christlichen Glaubens steht. Das christliche Korrektiv, eben jener Glaube, dass vor Gott potenziell jeder Mensch gerechtfertigt ist und dass niemand glauben darf, die Gnade Gottes für sich gepachtet zu haben (Man denke an die Negativfigur des Pharisäers!) – dieses Korrektiv existiert im Islam nicht. Auch hier kommt es also auf das objektive Kriterium der Zugehörigkeit zum sozialen System an, und der beste Jude oder Christ ist nach koranischer Auffassung in den Augen Gottes allemal weniger wert als der schlechteste Muslim.

Im Prinzip jedenfalls. Es sei hier nicht unterschlagen, dass es im Koran vereinzelt auch versöhnliche Verse gibt, in denen die Gottesfurcht besonders frommer Juden und Christen gewürdigt wird. Angesichts der unzweideutigen und vielfach wiederholten und variierten koranischen Grundaussage, dass alle „Ungläubigen“ von Gott verdammt und verurteilt seien, haben solche Verse jedoch bestenfalls den Charakter von Ausnahmeklauseln für Einzelpersonen. Und der Durchschnittswestler, der in der Regel ja nicht sonderlich fromm ist, fällt sowieso nicht darunter, Anhänger nichtmonotheistischer Religionen oder gar Atheisten erst recht nicht.

(Es gibt natürlich durchaus Muslime, die sich die liberale westliche Weltsicht und Religionsauffassung aneignen wollen, ohne mit ihrem Glauben in Konflikt zu geraten, und die sich einen toleranten Islam wünschen. Solchen Menschen öffnen die erwähnten Verse möglicherweise theologische Hintertürchen, durch die sie sich – freilich nur unter erheblichem exegetischem Voluntarismus – hindurchzwängen können. Der islamischen Kultur als Ganzer steht dieser Weg nicht offen – zu offensichtlich muss man den Text des Koran gegen den Strich bürsten, um ihm so etwas wie „Toleranz“ abzupressen.)

Damit trifft der Koran zugleich eine eminent politische Vorentscheidung: Die Unterscheidung, die so oft und so hartnäckig wiederholt und unterstrichen wird, dass man sie als eines der wesentlichen Leitmotive des Koran ansehen muss, ist die zwischen „Gläubigen“ und „Ungläubigen“, wobei die letzteren zu bekämpfen und – auch dies wird unzweideutig ausgesagt – zu unterwerfen sind. Hierin spiegelt sich die politische Situation zur Zeit des Propheten Mohammed wieder, als die islamische Umma eine Kampfgemeinschaft war, die ihre Feinde militärisch bekämpfte. Da sich diese Situation im Text des Koran niederschlug und dieser sich als das unmittelbare Wort Gottes mit Anspruch auf ewige Gültigkeit ausgibt, wurde der islamischen Religion und damit auch Kultur eine militant gegen Fremdgruppen gerichtete Mentalität eingepflanzt, in der der Djihad – und zwar im Sinne von „Heiliger Krieg“, nicht etwa von „Anstrengung auf dem Wege Gottes“ – als ewiges göttliches Gebot festgeschrieben ist, und die von einem radikalen, durch nichts relativierten Gruppenegoismus und -narzissmus geprägt ist: Der Feind der „besten Gemeinschaft, die es je gegeben hat“, ist von vornherein im Unrecht; legitime Interessen hat er nicht und kann er per definitionem nicht haben.

Verstärkt wurde dies noch dadurch, dass der muslimische Eroberungszug in den ersten beiden Jahrhunderten der islamischen Zeitrechnung schwungvoll weitergeführt wurde – in genau jener Zeit also, in der der Koran endgültig kanonisiert wurde und in der die Grundlagen des islamischen Rechts gelegt wurden (die, siehe oben, bis heute gelten). Wie der Koran die Menschheit in Gläubige und Ungläubige einteilt, so teilt das koranische Recht die Welt in das „Haus des Islam“ und das „Haus des Krieges“ ein. Die Selbstbeschreibung des Islam als einer „Religion des Friedens“ offenbart von diesem Punkt her ihre Doppelbödigkeit: Frieden ja – aber eben durch Unterwerfung des „Hauses des Krieges“, also der Länder der „Ungläubigen“. Wer sich bei dieser Art Friedfertigkeit an die der Kommunisten erinnert fühlt, die ständig vom Frieden redeten und damit die „Vernichtung des Imperialismus“ meinten, liegt durchaus richtig. Entscheidend war hierbei die politische Unterwerfung. Die religiöse Bekehrung würde dieser dann ganz von alleine folgen, so die völlig richtige Kalkulation, wenn man den „Dhimmis“ das Leben zur Hölle macht, ihnen aber gleichzeitig die Konversion zum Islam nahelegt, während man den eigenen Glaubensbrüdern den Übertritt unter Todesstrafe verbietet. Noch heute sind Muslime, die etwa zum Christentum übertreten, ihres Lebens nicht sicher, und zwar nicht nur in islamischen Ländern, sondern auch in Deutschland. In Berlin feiern Konvertiten ihre Gottesdienste heimlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Sie wissen, warum.

Die Konsequenz einer solchen Rechtsauffassung für die Mentalität einer davon geprägten Kultur liegt auf der Hand: Recht ist, was der eigenen Gruppe nützt. Der Andersgläubige ist der Feind. Der Feind ist immer im Unrecht.

Und wieder gibt es kein Korrektiv, kein „Richtet nicht, auf das Ihr nicht gerichtet werdet“, nichts, was der jesuanischen Aufforderung entspräche, sich selbst mit den Augen des Anderen zu sehen, keine Warnung vor Selbstgerechtigkeit, jedenfalls nicht im Umgang mit „Ungläubigen“, stets nur, und hundertfach wiederholt, die Verdammung des Anderen, die Heiligung der Selbstgerechtigkeit, man könnte auch sagen: den Appell an den inneren Schweinehund.

Dass Völker, die von einer solchen Mentalität geprägt sind, wenig Neigung haben, sich einem Regelwerk zu unterwerfen, dass die friedliche Austragung von Konflikten sichern soll und daher von der prinzipiellen Gleichberechtigung aller Parteien ausgeht – im Inneren die Demokratie, nach außen das internationale Recht -, sollte niemanden erstaunen. Und erstaunen sollte es einen auch nicht, dass die einzige scheinbar halbwegs säkulare Demokratie der islamischen Welt, nämlich die Türkei, ihre „Säkularität“ selbst nach achtzig Jahren (!) nur dadurch sicherstellen kann, dass sie die Religionsfreiheit suspendiert: Der Islam wird am engstmöglichen staatlichen Gängelband geführt, andere Religionen de facto unterdrückt, und das Ganze funktioniert nur, weil das Militär die „säkulare Demokratie“ mit vorgehaltener Pistole und aufgepflanztem Bajonett bewacht.

(Und was das internationale Recht angeht: Ich höre sie schon protestieren, die liberalen Christen und die Linken, wie ich denn den islamischen Völkern ihre Verachtung für das internationale Recht vorwerfen könne, wo es doch die USA seien, die… – Nun ja, ich spreche hier von der Mentalität von Völkern, und da fällt mir eben auf, dass Millionen von Westlern, und gerade die erwähnten Christen und Linken, für die Rechte etwa Iraks und der Palästinenser auf die Straße gegangen sind – ob zu Recht, lasse ich dahingestellt -, aber kaum ein Muslim für das Existenzrecht Israels. Falls sich das einmal ändern sollte, werde ich meine Vorwürfe mit Bedauern zurücknehmen, aber nicht vorher.)

Schön, könnte man einwenden, aber kann es nicht sein, dass auch der Islam solche Positionen überdenken kann? Kann es nicht auch, wie von Bassam Tibi vorgeschlagen, einen Euro-Islam geben, der mit demokratischen Werten vereinbar ist? Ist es nicht arrogant, dem Islam von vornherein jede Anpassungsfähigkeit abzusprechen?

Nun, ich würde eher sagen, dass es arrogant ist, eine fremde Religion nicht von ihrem Selbstverständnis her zu verstehen, sondern ihren Anhängern von vornherein eine christliche Denkweise zu unterstellen. Ich möchte nicht ein- für allemal ausschließen, dass es für Muslime möglich sein könnte, vielleicht auf der Basis einer historisch-kritischen Koraninterpretation zu einem demokratiekompatiblen Islamverständnis zu gelangen, und ich wäre sehr glücklich, wenn man mir in der Praxis beweisen würde, dass meine Thesen falsch sind. Nur: Ich sehe das nicht.

Ich sehe nicht, wie man theologisch sauber aus den Grundlagen des Islam, dem Koran und dem Hadith, einen demokratischen Euro-Islam ableiten will. Für eine historisch-kritische Koraninterpretation sehe ich keinen Raum. Wer einwendet, es gebe doch auch eine kritische Bibelinterpretation, verkennt den spezifischen Charakter der islamischen Religion:

Jede der drei monotheistischen Religionen kennt genau ein Kriterium, das trennscharf und mit letzter Verbindlichkeit die Grenze bestimmt, jenseits derer eine theologische Position nicht mehr als jüdisch, christlich oder eben islamisch akzeptiert werden kann: Für Juden ist dies das Volk Israel als das Volk Gottes, für Christen Jesus Christus als der Sohn Gottes, für den Islam der Koran als das Wort Gottes. Natürlich sprechen auch Juden und Christen von ihrer jeweiligen Bibel als dem „Wort Gottes“; als Jude oder Christ kann man das auch ganz wortwörtlich verstehen, man muss es aber nicht! Schlimmstenfalls wechselt man die Gemeinde oder Konfession, aber man hört nicht auf, Jude/Christ zu sein, wenn man nicht an die Verbalinspiration der Bibel glaubt – weil eben Judentum und Christentum sich nach anderen Kriterien definieren.

Der Islam dagegen steht und fällt mit der absoluten Gültigkeit des Koran. Die zu bestreiten, ist nicht etwa eine alternative islamische Theologie – es ist schlicht und einfach „Kufr“ – Unglaube!

Für Muslime ist der Koran nicht das, was für uns Christen die Bibel ist; er ist das, was für uns Jesus Christus ist – der archimedische Fixpunkt! Der in einem christlichen Kontext entwickelte Begriff „Fundamentalismus“ – womit diejenigen christlichen Lehren gemeint sind, die von der Verbalinspiration und absoluten Wahrheit der Bibel ausgehen, im Unterschied und Gegensatz zur Position der Mehrheit, die dies ablehnt – ist in Bezug auf den Islam strenggenommen sinnlos und sogar irreführend, weil der Islam in sich fundamentalistisch im oben beschriebenen Sinne ist. Natürlich gibt es Muslime, die privat Allah einen guten Mann sein lassen, aber sie gründen keine Glaubensgemeinschaften und propagieren keine liberale Theologie. Eine solche gibt es im Christentum wie im Judentum. Im Islam gibt es sie nicht.

Aktuelle Literatur zum Thema „Islam“

Aktuelle Literatur zum Stichwort „Djihad“

Die Bücher von Hans-Peter Raddatz, von Oriana Fallaci, von Udo Ulfkotte, von Henryk M. Broder

30 Gedanken zu „Warum das Christentum zur Demokratie passt, der Islam aber nicht. Teil II: Islam“

  1. Hallo Manfred,

    diese innerislamische Diskussion um eine kommentierte Koranausgabe fuer Kinder (von Memri in Exzerpten uebersetzt) http://www.memri.org/bin/latestnews.cgi?ID=SD174407 ist mir gerade ueber den Bildschirm gelaufen.

    Irgendwie moechte ich dafuer halten, dass Du den Islam zu sehr vereinfachst und dass die Unterscheidung zwischen Islamismus (die Islamauffassung, die mit der Muslimbruderschaft begann) und Islam selber Sinn macht. Vielleicht ist das Wunschdenken.

  2. Ich stimme Beer7 zu. Die Unterscheidung zw. Islam und Islamismus ist cum grano salis so sinnvoll, wie die keineswegs nur taktisch zu verstehen Unterscheidung zw. Nazis und Deutschen die z.B. die russische Bevölkerung nach dem 2.WK mehrheitlich praktizierte.

    Was heißt zusammenpassen? Darf man rote und blaue Kleidungstücke zusammen tragen? Es gibt weder „die“ Religion (also auch nicht „den“ Islam) noch „die“ Demokratie. Es bleiben zwei ungeklärte Problemzonen: 1. Der Iran war mal demokratisch (dass er es nicht mehr ist liegt nicht nur an den Moslems), Indonesien ist es. 2. Es gibt Moslems, die überzeugte Demokraten sind.
    Daran führt keine noch so fundierte Analyse vorbei. Und das verbietet m.E. eine solch grundsätzliche Folgerung.

    Die m.M. weiterführende Fragestellung sollte also eher lauten welche monotheisischen Religionsvarianten sind demokratiekompatibel (oder befürworten gar aktiv demokratische Strukturen)? Welche Gruppierungen sind das nur in formaler Hinsicht, welche sind antidemokratisch?

    PS: Noch eine Nachbemerkung, wenn du den Islam / die Moslems zumindest im empirischen Sinne als nicht demokratisierbar ansiehst, existiert praktisch keinerlei Grund mehr um den Bushschen Irakkrieg zu legitimieren. Ein Widerspruch oder habe ich etwas nur falsch in Erinnerung?

  3. @flowerkraut, beer7,

    Um von hinten anzufangen: Ich habe den Irakkrieg noch nie und unter keinem Gesichtspunkt legitimiert, und ich habe die Vorstellung, im Irak könne man eine Demokratie bloß dadurch installieren, dass man den Diktator stürzt, immer für Wunschdenken gehalten. Ein gemäßigt autoritäres Regime mit gewissen liberalen Zügen, in dem es ansatzweise so etwas wie Rechtsstaatlichkeit gibt, schien mir das bestmögliche Ergebnis. Die Erfahrungen, die wir mit der Türkei gemacht haben (siehe oben), die im Gegensatz zum Irak SELBST versucht hat, sich zu verwestlichen, sprechen allemal dagegen, dass es möglich sein sollte, eine Demokratie in kurzer Zeit errichten. Es klappt ja noch nicht einmal in langen Zeiträumen.

    Der Iran war nur sehr kurze Zeit eine Demokratie, bis der Schah sich mit amerikanischer Hilfe an die Macht zurückputschte, und wir wissen einfach nicht, wie es weitergegangen wäre, wenn diese Intervention unterblieben wäre. Es spricht aber Bände, dass die Revolution von 1979, die ja, was immer man sonst dagegen sagen will, eine echte Volksrevolution war, eben KEINE Demokratie hervorgebracht hat, OBWOHL das neue politische System im Prinzip durchaus demokratische Gedanken enthält. Die konnten sich aber gerade deshalb nicht entfalten, weil die liberalen Vorstellungen von individueller Freiheit, ohne die es eine Demokratie nicht geben kann, dem Koran widersprechen. Siehe oben.

    Und was Indonesien betrifft: Wie lange die Demokratie dort hält, ist angesichts des wachsenden Einflusses der Islamisten offen. Im übrigen ist Indonesien denkbar weit von den Kerngebieten des Islam entfernt und unterliegt auch anderen als den islamischen kulturellen Einflüssen.

    Ich bestreite nicht, dass es Muslime gibt, die überzeugte Demokraten sind. Wenn mir dies als Gegenargument entgegengehalten wird, so scheint mir ein Missverständnis vorzuliegen: Ich vertrete nicht die These, dass jeder einzelne Mensch wie eine Marionette an den Fäden seiner Religion hängt, auch nicht jeder Muslim. Was ich behaupte, ist vielmehr, dass es in jeder Gesellschaft bestimmte normative Grundannahmen gibt, die so selbstverständlich sind, dass sie den Mitgliedern dieser Gesellschaft nicht bewusst sind. Diese normativen Grundannahmen gehören zur Kultur dieser Gesellschaft, und ich behaupte, dass sie entscheidend von der zugrundeliegenden Religion abhängen. Diese Grundannahmen habe ich in Bezug auf das Christentum und den Islam offengelegt und analysiert. Ich halte dies für wichtig, weil man sonst in der politischen Praxis von der mE falschen Voraussetzung ausgeht, dass der andere so tickt wie man selbst. Das bedeutet nicht, dass Demokratie oder Liberalität in jedem islamischen Land ein- für allemal unmöglich wäre, sondern nicht mehr (aber eben auch nicht weniger!), als dass sie sehr unwahrscheinlich ist und mit ganz anderen Hindernissen zu kämpfen hat als im Westen.

    Das bedeutet nicht, dass Muslime, die im Westen leben (allerdings nur die), nicht in der Lage seien, sich die westliche, liberal-demokratische Denkweise anzueignen und entsprechend zu handeln. Wie gesagt: Der Mensch besteht nicht nur aus seiner Religion. Dazu müssten sie sich aber der westlichen KULTUR verbunden fühlen. Was wir aber erleben, sind die vielzitierten Parallelgesellschaften. Deren Mitglieder leben zwar geographisch im Westen, aber sie haben ihre Kultur mitgebracht, und erhalten sie, indem sie ihre Parallelgesellschaften von der sie umgebenden Kultur abschotten (und DASS sie das tun, hat wiederum mit der Wirkung religiöser Prämissen zu tun: Man kann sehr wohl „deutsche Schlampen ficken“ – aber die Ehefrau importiert man dann doch lieber aus der Türkei). Wenn es jemals so etwas wie einen Euro-Islam geben soll, wäre die Auflösung dieser Parallelgesellschaften die kulturelle Voraussetzung dafür – und selbst dann funktioniert es meiner Ansicht nach nur, wenn der Islam zur bloßen Tradition „säkularisiert“ wird. Eine in sich schlüssige islamische Theologie, die gleichzeitig liberal und demokratisch sein soll (und zwar in ihren Grundannahmen, nicht bloß in dem Sinne: „Der Westen ist zwar gottlos, sittenlos, verderbt und unmoralisch, aber man muss ihn eben ertragen“), sehe ich beim besten Willen nicht.

    Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Theorie ein hohes Abstraktionsniveau aufweist und insofern tatsächlich eine Vereinfachung darstellt. (Allerdings ist jede Theorie eine Vereinfachung). Die Mindestvoraussetzung für eine gültige Theorie ist, dass sie bekannten Tatsachen nicht widerspricht und dass sie falsifizierbar ist. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

    Sind diese Voraussetzungen gegeben, unterscheidet sich eine gute Theorie von einer schlechten dadurch, dass sie mit möglichst wenigen Elementen möglichst viele Phänomene erklärt – man nennt dieses Prinzip auch „Ockhams Rasiermesser“.

    Es gibt eine Reihe von Phänomenen, die regelmäßig dort auftreten, wo islamische mit nichtislamischen Populationen in eine soziale Beziehung treten, und die politisch-soziale Konflikte (im weistesten Sinne des Wortes) umfassen. Natürlich kann man die, wenn man das will, auch ohne Rückgriff auf den Islam erklären:

    Dann ist der latente Bürgerkrieg in Nigeria ein Kampf ums Öl, die Ermordung von Christen in der Türkei Ergebnis eines fehlgeleiteten Nationalismus, die Ermordung von Christen in Ägypten ein allzu extremer Fundamentalismus, am Palästinakonflikt sind sowieso die Israelis schuld, an der Existenz der Taliban die Russen, an Ehrenmorden von Berliner Kurden nicht die Religion, sondern die lokale Kultur des ländlichen Anatolien, an Ehrenmorden in Ägypten wiederum nicht die Religion, sondern die sozialen Probleme Kairos, an Anschlägen auf westliche Botschaften dänische Karikaturisten, und die Aktivität von muslimischen Terroristen in Indien, Russland, Thailand, den Philippinen, Großbritannien, Deutschland und so weiter und so fort jeweils auf lokale Gegebenheiten zurückzuführen.

    Diese Erklärungen müssen noch nicht einmal falsch sein. Sie erklären aber nur, wie bestimmte Probleme im Einzelfall entstanden sind. Was sie nicht erklären, ist die eigentümliche Gleichförmigkeit der muslimischen Reaktionen, nämlich Gewaltanwendung vom Ehrenmord bis zum Terrorismus, auf scheinbar doch ganz und gar verschiedenartige Probleme. Erklärbar wird diese Gleichförmigkeit aber, wenn ich in Betracht ziehe, dass wir es hier mit der Wirkung einer Mentalität, das heißt einer kulturell bedingten Grunddisposition zu tun haben. Und die ist eben, wie ich gezeigt habe, a priori illiberal.

    Zur Unterscheidung Islam/Islamismus: Natürlich ist das nicht einfach dasselbe – aber eben in dem Sinne, in dem auch eine Ursache nicht einfach dasselbe ist wie die von ihr hervorgebrachte Wirkung. Ein Apfelbaum ist nicht dasselbe wie ein Apfel. Was von gemäßigten Muslimen, sofern sie islamische Rechtsgelehrte sind, bestritten wird, ist nicht die Berechtigung des „Kampfes gegen die Ungläubigen“, sondern allenfalls bestimmte Methoden, etwa das Selbstmordattentat (und selbst darüber besteht keineswegs Einigkeit). Die Frage ist doch: WARUM kann sich ein Mann wie Bin Laden, warum können sich Hamas-Leute auf den Islam berufen, ohne in der gesamten islamischen Welt ausgelacht zu werden? Wenn deren Praktiken dem Islam so offensichtlich ins Gesicht schlagen, wie behauptet wird, warum WISSEN so viele Muslime das nicht? Warum bedarf es umständlicher Fatwas, um sie zu widerlegen, und warum kritiseren diese Fatwas regelmäßig nicht den Djihad als solchen, sondern nur – und auch das nicht immer – bestimmte Methoden?

    Ich glaube, Flowerkraut hat einen sehr wichtigen Gesichtspunkt aufgegriffen, als er das Verhältnis der islamischen Umma zu den Islamisten mit dem der Deutschen zu den Nazis verglichen hat: Es ist durchaus sinnvoll, einen Unterschied zu machen zwischen den Nazis und dem normalen patriotischen Deutschen der dreißiger Jahre, und ich vermute, dass wirkliche Nazis zu keinem Zeitpunkt mehr als zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung ausgemacht haben (auch heute noch schätzt man ihren Anteil aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen auf 15-18%). Wie ist es dann zu erklären, dass die Nazis einen erheblich höheren Stimmenanteil erhalten haben, und dass NACH der Machtergreifung die Unterstützung der deutschen Bevölkerung spätestens um 1938 nahezu einhellig war, jedenfalls bis weit in den Krieg hinein kaum unter achtzig Prozent gelegen haben dürfte? Nur mit Gewalt? Damit kann ich Menschen zwingen, etwas zu tun, was sie nicht wollen, aber kann sie nicht zwingen, sich dabei gut zu fühlen. Und die Deutschen haben sich lange Zeit dabei gut gefühlt. Der Grund ist, dass die Nazis auf bestimmten kulturell bedingten Dispositionen aufbauen konnten, die nicht nur ihre Herrschaft als solche, sondern auch deren Inhalt legitimierte. Das reicht vom Antisemitismus, der bereits im Kaiserreich zu den kulturellen Selbstverständlichkeiten gehört hatte, über den Nationalismus völkischer Prägung, den Militarismus, die Demokratiefeindlichkeit bis hin zum Sozialdarwinismus (Ich fasse diese Dispositionen jetzt einmal schlagwortartig zusammen, um diesen Kommentar nicht ausufern zu lassen). Das waren Einstellungen, die mit einer gewissen Selbstverständlichkeit tief in der deutschen Bevölkerung verbreitet waren, die nur vor Hitler nie zu einer geschlossenen Ideologie mit politischem Machtanspruch zusammengefasst worden waren. Die Nazis haben nichts anderes getan, als dass, was man die „deutsche Ideologie“ nennen könnte, bewusst zum politischen Programm zu erheben.

    Nichts anderes tun die Islamisten. Ich kann nicht erkennen, dass sie den Koran in irgendeinem Sinne „falsch“ – d.h. gegen dessen Intentionen – auslegen. Auch wenn es einem gegen den Strich geht, solchen Leuten auch noch „Recht“ zu geben: Auf der Basis ihrer religiösen Prämissen HABEN sie Recht.

    Zum Schluss könnte man natürlich noch sagen: Ja, aber die Deutschen sind doch auch Demokraten geworden, warum sollten Muslime das nicht können? Erstens und nochmals: Muslime können das – aber nicht der Islam als Ganzer. Zweitens: Die deutschen Dispositionen, die den Nationalsozialismus hervorgebracht haben, sind historisch jung – sie sind erst im 19. Jahrhundert entstanden -, und sie waren nie konkurrenzlos. Sie standen nicht nur im Widerspruch zu anderen politischen Strömungen (Sozialismus, Liberalismus), gegen die sie sich durchsetzen mussten, sie konnten auch die vom Christentum geprägte Grunddisposition nicht beseitigen, allenfalls überdecken und pervertieren. Etwa so, wie der arabische Nationalismus die islamische Grunddisposition nicht beseitigen konnte. Das Problem mit der islamischen Kultur ist gerade, dass ihre problematischen Aspekte in der RELIGION, d.h. der tiefsten Schicht der kulturellen Identität verankert sind.

  4. Manfred, ich bin nicht restlos ueberzeugt.

    Das Beispiel Deutsche und Nationalsozialismus: Die „deutsche Disposition“ war nicht wesentlich anders als die frz. Disposition oder auch die britische Disposition. Auch hat, was Du als „deutsche Disposition“ beschreibst, ebenfalls seine Wurzeln in abendlaendischer Kultur und damit im Christentum.

    Der Islam als Glaubenssystem ist solange nicht mit Demokratie vereinbar, wie der Koran absolut und 1:1 als Gotteswort aufgefasst wird. Aehnlich musste auch die Bibelauslegung in der Reformation sozusagen privatisiert werden, bevor sich das Konzept der Menschenrechte (absolute Rechte des Individuums) durchsetzen konnte.

    Du meinst, dass das Christentum die Reformation (als eine der erfolgreichsten unter vielen Erneuerungsbewegungen innerhalb des Christentums) hervorbringen musste, weil die Kluft zwischen Evangelien und Organisation Kirche zu gross war.

    Wie gesagt, ich kenne den Islam nicht, nur ein wenig Geschichte des Islams, vor allem Bernard Lewis. Mir scheint, dass auch der Islam immer wieder Erneuerungsbewegungen hervorgebracht hat. Noch bevor die Spanier die Mauren vertrieben, ueberrannten die Almohiden Nordafrika und das muslimische Spanien. Und ihre Rechtfertigung war ganz klar der Anspruch, einen reineren, richtigeren Islam zu vertreten.

    Die Verbindung von Politik und Religion ist natuerlich auch in Europa und im Christentum das Uebliche.

  5. @beer7,

    Zunächst zur „deutschen Disposition“: Ich hatte oben vergessen zu erwähnen, dass der Antisemitismus in der Tat nichts spezifisch Deutsches war, sondern tatsächlich seine Wurzeln im Christentum hatte. (Das hatte ich allerdings in einem anderen Beitrag schon einmal ausführlich erörtert). Was die übrigen Dispositionen angeht (Ich vergeiche hier Deutschland einerseits mit England und den USA andererseits; Frankreich ist ein Sonderfall, und ich glaube, dass die Kollaboration des Pétain-Regimes tiefe Wurzeln in der farnzösischen Gesellschaft hatte – allerdings nicht SO tiefe, dass Frankreich von sich aus einen NS hätte hervorbringen können):

    Spezifisch deutsch war nicht der Nationalismus, sondern seine prinzipielle Frontstellung gegen die Idee der liberalen Demokratie. Militarismus gab es auch anderswo, aber nur in Deutschland wurde der Offizier zum gesellschaftlichen Leitbild auch für Zivilisten, und nur in Deutschland war das Militär nicht der zivilen Regierung untergeordnet (de facto nicht einmal in der Weimarer Republik). Sozialdarwinismus gab es als Theorie auch anderswo, aber nur in Deutschland war es unter den Eliten üblich, die friedliche Lösung von Konflikten für etwas Verachtenswertes zu halten. Demokratiefeindlichkeit gab es auch anderswo, aber nur in Deutschland gab es einen demokratiefeindlichen Elitenkonsens mit Ausstrahlung in die gesamte Gesellschaft. Und nur in Deutschland wurde spätestens seit den Zwischenerfolgen des Ersten Weltkriegs die Unterwerfung des europäischen Kontinents als wünschenswertes Ziel angesehen. (Damit sage ich nicht, dass der NS unvermeidlich gewesen wäre; ohne die kumulative Wirkung von vier aufeinanderfolgenden Großkrisen – Weltkrieg, Revolution, Inflation und Weltwirtschaftskrise – hätte es ihn kaum geben können.)

    Die Nazis konnten sich daher glaubwürdig und mit Aussicht auf Zustimmung – die sie ja auch bekamen – als Verkörperung der nationalen Identität ausgeben. Dass die meisten Deutschen keine Nazis waren, heißt nicht, dass man eine Einteilung vornehmen könnte: hier die guten (verführten, unterdrückten) Deutschen – da die bösen Nazis. So einfach war es nicht.

    „Der Islam als Glaubenssystem ist solange nicht mit Demokratie vereinbar, wie der Koran absolut und 1:1 als Gotteswort aufgefasst wird.“ Da stimme ich Dir natürlich zu, und das gilt für jedes Glaubenssystem, das auf der buchstäblichen Wahrheit heiliger Texte aufbaut, auch für den christlichen Fundamentalismus (womit ich zugleich die Antwort auf die Frage von Flowerkraut gebe, die zu beantworten ich gestern vergessen habe), den ich ebenfalls für eine Gefahr halte; aber eben für eine geringere, weil der christliche Fundamentalismus im Gegensatz zum Evangelium steht und daher selbst unter aktiven Christen eine Minderheitsposition ist. Der Punkt, an dem Du vorbeiargumentierst, ist, dass eine Religion, selbst wenn sie sich erneuert, nicht ihre zentralen Glaubensgrundlagen aufgeben kann: Ein Islam ohne die absolute Gültigkeit des Koran wäre so etwas ähnliches wie ein Christentum, für das Christus nicht der Sohn Gottes ist. Solche Positionen können Einzelne, meinetwegen auch kleine Gruppen vertreten, aber sie sind nicht konsensfähig.

    Und selbst wenn sie konsensFÄHIG sein sollten: Sie SIND eben nicht Konsens. Konsens unter Muslimen ist eben dies, dass „der Koran absolut und 1:1 als Gotteswort aufgefasst wird“. Selbst wenn man davon ausgeht, dass sich dies ändern könnte: Dann muss man auf diese Änderung aber auch drängen und deutlich machen, dass hier ein PROBLEM liegt, und zwar ein prinzipielles!

    Das geschieht aber gerade nicht! Der Durchschnittswestler geht davon aus, dass der Islam zwar ein bisschen, aber doch nicht wesentlich anders ist als das Christentum, und dass man die Unterschiede getrost in den rein religiösen (und das heißt bei uns: privaten) Bereich abschieben könnte. Man ignoriert dabei, dass der Islam eine wesentlich POLITISCHE Religion ist, und dass die Trennung von Politik und Religion einer spezifisch christlichen Denkweise entspringt, die dem Islam gerade fremd ist.

    Ich dachte eigentlich, ich hätte das alles im Text deutlich herausgearbeitet, und bin etwas erschüttert, dass mir das offenbar völlig misslungen ist.

    Könnte es sein, dass hier die Wirkung einer unterschiedlichen politischen Akzentsetzung vorliegt? Du sympathisierst mit den Neocons, die die Demokratie in die islamische Welt exportieren möchten, und Flowerkraut solidarisert sich mit demokratischen Bewegungen überall auf der Welt. Was wir drei sicherlich gemeinsam haben, ist der dezidiert demokratische und antitotalitäre Ansatz. Was meinen Ansatz von Eurem unterscheidet, ist, dass er pessimistischer ist.

    Mein Schwerpunkt liegt darauf, die offene Gesellschaft dort zu verteidigen, wo sie bereits existiert, und ich glaube, dass das westliche Demokratiemodell erheblich unter Druck ist: von außen politisch, militärisch und terroristisch. Von innen aber dadurch, dass Ideologiebruchstücke gesellschaftlich populär sind, die entweder selber zum Anknüpfungspunkt totalitärer Politik werden oder die Fähigkeit von Demokratien beeinträchtigen, sich gegen ihre Feinde zur Wehr zu setzen: Kulturrelativismus, Pazifismus, Political Correctness, Restbestände linkstotalitären Denkens, aber auch die Neigung zu Verschwörungstheorien, die weltfremden Erwartungen an demokratische Politik, christlich-fundamentalistische Positionen etc.

    Daher der ideologiekritische Schwerpunkt in meinem Blog. Dazu gehört das Bewusstsein, dass die liberale Demokratie ein äußerst fragiles und voraussetzungsreiches Gebilde ist, das nicht ohne weiteres exportiert werden kann, und das gefährdet werden kann, wenn man seine Politik auf Illusionen aufbaut, die zwar menschenfreundlich sind, die aber direkt zu politischen Fehlern führen. Ich bin sehr dafür, Völker zu unterstützen, die um ihre Freiheit kämpfen; ich bin aber nicht dafür, Völker mit der Demokratie zu beglücken, die sie bei der ersten Gelegenheit abschaffen und gegen eine totalitär-islamistische Herrschaft eintauschen. Und deshalb bin dafür, sehr sorgfältig abzuwägen, ob die kulturellen Voraussetzungen für eine Demokratie gegeben sind oder nicht. Ein Mubarak mag ein übler Diktator sein – trotzdem sehe ich ihn lieber an der Macht als die Muslimbrüder.

  6. Ich vermute, dass wir gleichzeitig geschrieben haben. Leider kann ich jetzt nicht mehr ausführlich antworten, daher nur ganz kurz:

    „Die Kopftuchjihadisten haben der Türkei in ein paar Jahren mehr demokratische Erneuungen gebracht als die Atatürkbewunderer in den letzten Dekaden.“ – Das ist richtig, aber ich habe ein Problem mit Leuten, die vor zehn Jahren noch den Gottesstaat propagiert haben, und sich dann innerhalb weniger Jahre geräuschlos, ohne Zerreißproben, wie von selbst zu einer islamischen CDU gemausert haben. Ich wünschte, das wäre so, aber – pardon – das stinkt.

    Ich fürchte, die Säkularisten haben Recht mir ihrer Befürchtung, dass es vor allem um die – islamische – Religionsfreiheit geht, also um die Beseitigung säkularer Machtpositionen, und dass der forcierte Beitritt zur EU dazu dienen soll, die Türkei zum islamischen Trojanischen Pferd innerhalb Europas zu machen. Beweisen kann ich das nicht, aber Misstrauen soll bisweilen gesund sein.

    Dass die Islamisten in der Regel nicht korrupt sind, ist zutreffend. Ja, aber was willst Du damit sagen? Demokraten müssen sie deswegen noch lange nicht sein.

  7. Dann lege ich das Rasiermesser einmal anders an!

    Moderne Demokratien sind geschichtliche eine relativ junge Entwicklung. Die Zahl der Nichtdemokratie übersteigt die der Demokratien um ein Mehrfaches. Damit Demokratien wachsen, blühen und sich vertiefen können brachen sie Ruhe und Sicherheit. Zumindest wäre dies nicht hinderlich.
    Man könnte nun viele Länder aufzählen, die von einem nichtdemokratischen Rollback bedroht sind. Z.B. Georgien (ich bin kein Fachmann dafür) und hier zeigt sich eine große Palette demokratischer Bremsklötze:
    Bedrohung von außen
    „unklare Grenzen“ bzw. ethnischen Binnenkonflikte
    Korruption
    z.T. Klan- oder tribusartige Gesellschafteinteilungen
    Orthodoxes Christentum
    schwierige Wirtschaftslage
    etc.
    man kann diese Aufstellungen mal mit den islamischen Ländern versuchen. Die größten Ankläger der dortigen Korruption sind nebenbei gesagt die Islamisten. Richtig ist sicherlich trotzdem, dass die islamistischen Bewegungen demokratisches Gedankengut wohl nicht verinnerlichen können (Du hast zusammen mit beer7 die Hauptpunkte dafür genannt).
    Aber vielleicht ist auch hier die Lage nicht so eindeutig. Die Kopftuchjihadisten haben der Türkei in ein paar Jahren mehr demokratische Erneuungen gebracht als die Atatürkbewunderer in den letzten Dekaden.

  8. Zitat: „“Die Kopftuchjihadisten haben der Türkei in ein paar Jahren mehr demokratische Erneuungen gebracht als die Atatürkbewunderer in den letzten Dekaden.” – Das ist richtig, aber ich habe ein Problem mit Leuten, die vor zehn Jahren noch den Gottesstaat propagiert haben, und sich dann innerhalb weniger Jahre geräuschlos, ohne Zerreißproben, wie von selbst zu einer islamischen CDU gemausert haben. Ich wünschte, das wäre so, aber – pardon – das stinkt. “

    Das Missbehagen sei Dir gegönnt und ist sicherlich nicht in jedem Fall völlig unberechtigt, aber noch ein schräger Vergleich: Wo waren die ganzen Nazis nach 45? Wie viele Halbe- und Viertelnazis waren in der CDU und welche Überzeugung hat sich durchgesetzt und dann die Westbindung Deutschlands durchgesetzt?

    Dubcek, Nagy, Horn, Jelzin waren „Die Partei hat immer Recht“ -Kommunisten und leiteten trotzdem einen Wandel ein. Walesas Nachfolger Kwasniewski war ebenfalls Kommunist und er hat seine spätere Rolle in vielerlei Hinsicht recht überzeugend angenommen.

    Der Islam ist nicht nur eine sterile Buchreligion, sondern auch Weisheitslehre, Mystik und Kontemplation und diese Elemente lassen sich durchaus in der demokratischen Moderne weiterführen. Zugegeben: Für den „Rest“ müssen sie aber noch einige dicke Bretter bohren oder ihn ignorieren.

    Noch eine Schlussbemerkung zu dieser Diskussion: Am Ende hat der Recht, der die Fische fängt. Die demokratischen Systeme sowie demokratisches Gedankengut sind bisher ziemlich erfolgreich. Mich wundert immer wieder, wie wenig Vertrauen man dem Wirken demokratischer Kräfte und Ideen entgegenbringt.

  9. Die Halbe- oder Viertelnazis in der CDU (und auch anderen Parteien) hat es gegeben, aber die CDU stand unter Führung von aktiven Antinazis wie Adenauer oder Jakob Kaiser, sie war keine nazistische Tarnorganisation.

    Die wirklichen – ganzen – Nazis gründeten dann doch lieber Parteien wie die Deutsche Reichspartei und später die NPD.

    Und was die Kommunisten angeht: Für die gilt Ähnliches wie für das Christentum, nämlich dass die Praxis der Kommunistischen Parteien ein offensichtlicher Hohn auf die Ideale war, auf die sie sich beriefen.

    Was die islamische Spiritualität angeht: Da sehe auch ich durchaus Ansatzpunkte für ein demokratiekompatibles Islamverständnis. Mit geht es auch nicht darum, den Islam zu verteufeln, sondern die Wurzeln der Probleme offenzulegen, die regelmäßig auftreten, wenn die islamische und die westliche Zivilisation aufeinandertreffen. Und darum, vor einer Toleranz zu warnen, die auch die Intoleranz noch toleriert, und vor der Harmoniesucht, die Viele im Westen dazu veranlasst, vor offensichtlichen Problemen die Augen zu verschließen bzw. die Schuld beim bösen Westen, den rücksichtslosen Karikaturisten, den schrecklichen Israelis, dem finsteren Imperialismus, der Armut oder sonstigen „Ursachen“ zu suchen, nur nicht im Islam selbst.

    Wenn Du willst, lies meine Analyse als Self-denying prophecy. Wenn das islamophile, politisch korrekte Paradigma durch ein islamkritisches abgelöst wird, kann dies vielleicht dazu führen, dass Muslime – wenigstens im Westen – ihre Glaubensgrundlagen überdenken – und sei es nur, um die Islamkritiker ins Unrecht zu setzen. Auf diese Weise ins Unrecht gesetzt zu werden, soll mir recht sein.

    Demokratisches Gedankengut, um Deine letzte Bemerkung aufzugreifen, ist in der Tat ziemlich erfolgreich, und noch der übelste Tyrann hält es für nötig, sich auf den Willen des Volkes zu berufen. Demokratie in unserem Sinne umfasst aber einiges mehr als nur die Vollstreckung des angeblichen oder sogar des tatsächlichen Volkswillens. (Du erinnerst Dich, dass ich neulich geschrieben habe, Putin sei in dem Sinne ein lupenreiner Demokrat, als er tatsächlich die Russen so regiert, wie sie regiert sein wollen.)

    Vor der Demokratie kommen Staatlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Liberalität – und zwar in dieser Reihenfolge, weil jede Stufe die vorhergehenden voraussetzt. Und das alles muss dann auch noch gesellschaftlich akzeptiert sein, sonst bekommst Du die sprichwörtliche Republik ohne Republikaner. Akzeptiert werden müssen also das Gewaltmonopol des Staates, dessen positives Recht und die Freiheitsrechte der Mitmenschen, auch des Andersdenkenden oder Andersgläubigen. Gerade der letzte Punkt – Toleranz – ist für die meisten Menschen eine Zumutung; natürlich will Jeder gerne toleriert WERDEN – aber selber den Anderen tolerieren? Freie Presse, auch wenn sie „dem Feind nutzt“? Freie Wissenschaft, auch wenn sie der Religion widerspricht? Freie Wirtschaft, auch wenn deren Ergebnisse „ungerecht“ sind? Freie Religionsausübung auch für die „Ungläubigen“? Loyalität gegenüber dem Staat, auch wenn er von der falschen Partei regiert wird? Da endet dann oft die Begeisterung für demokratische Ideale. Die demokratische, offene Gesellschaft ist etwas Erfolgreiches, zugleich aber sehr Unbequemes. Sie zu akzeptieren, bedarf der mittlerweile von mir vielzitierten kulturellen Voraussetzungen. Daher meine Skepsis.

  10. Die Warnung vor dem Islamismus findet bei mir offen Ohren. Ich glaube der Hauptunterschied zwischen unseren Meinungen, besteht in der Ausfassung über Religionen. Für dich hat eine Religion einen ursprünglichen Wesenskern (oder besser einen Wesensriesenklotz) der seine spätere Entwicklung immer mehr bestimmen als beeinflussen wird. Für mich ist eine Religion nur Ausdruck der Religiosität (also eher eines Gefühls) das sich immer zeitgemäße Ausdrucks- und Deutungsformen sucht. Das gilt auch für die Liturgie und die Rituale, die noch zu den beständigsten Elementen gehören. Im Ernst, wie viel verbindet Dich und deine Auffassungen noch mit einem Christen des 4.Jahrhunderts oder einem des Mittelalters? Der Islamismus ist ein Abgleiten in die Barbarei bei dem vergeblichen Versuch sich dem vermeidlich uralten Wesenskern und „den guten alten Zeiten“ anzunähren. Das wird wie alle Ismen hoffentlich vergehen, weil selbst normal begabte Moslems erkennen könnten, dass es so nicht funktionieren kann. Einige werden die Realität natürlich nicht zur Kenntnisnehmen wollen und Islamisten wird es daher natürlich auch weiterhin geben, wie es Stalinisten, Maoisten und Faschisten leider auch weiterhin gibt. Aber die „Modedroge“ Islamismus wird irgendwann verschwinden. Nicht hauptsächlich weil wir dagegen anschreiben, sondern weil die Moslems dessen überdrüssig werden, es ist einfach zu ansträngend. Inschallah 😉

  11. Als Aufklärer hoffe ich natürlich, dass allen Menschen, auch den Muslimen, der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit gelingt. Zur Aufklärung gehört aber auch die Erkenntnis der Hindernisse, die dem entgegenstehen.

    Du fragst mich, was mich mit einem Christen des vierten Jahrhunderts oder gar des Mittelalters verbindet. Eine ganze Menge, vermute ich. Zum Beispiel die Kenntnis des Evangeliums und der Glaube an die Erlösung durch Christus. Was mich von ihm trennt ist, dass ich es ablehne, diesen Glauben zur gesellschaftlichen Norm zu machen oder Andersgläubigen die Erkenntnisfähigkeit abzusprechen. Ich glaube aber, dass ich mit dieser Haltung näher an der Botschaft Christi bin als der Christ des Mittelalters, und ich habe auch ausführlich dargelegt, warum.

    Wenn Religion nur Ausdruck eines religiösen Gefühls wäre, also unabhängig von dem gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem ich lebe, wie komme ich dann ausgerechnet darauf Christ zu sein und nicht etwa Buddhist oder Sonnenanbeter? Warum halte ich die christliche Ethik für die beste und nicht etwa die islamische? Das hat doch nicht nur mit rationaler Überlegung zu tun, sondern damit, dass ich eben in einer christlich geprägten Gesellschaft aufgewachsen bin. Ich glaube aufgezeigt zu haben, in welche Fallen man läuft, wenn man Religion ausschließlich als soziales System konzipiert. Das bedeutet aber nicht, dass Religion als bloßes Gefühl im stillen Kämmerlein existenzfähig wäre – ein gewisses Maß an Institutionalisierung, Kanonisierung, also sozialer Verbindlichkeit gibt es immer und muss es auch geben.

    Die Normen einer Religion, wenn sie zur Grundlage einer Kultur geworden ist, werden an jede Generation aufs Neue weitergegeben, individuell als Erziehung, auf der gesellschaftlichen Ebene als Sozialisation. Ich spreche lieber von Sozialisation als von Erziehung, weil man mit „Erziehung“ eine bewusste Entscheidung für diese oder jene Erziehung verbindet, also von einem aktiven Erzieher ausgeht. Die meisten Normen einer Gesellschaft werden aber unbewusst erlernt, fast so unbewusst wie die Sprache. Jeder von uns hat aus der Beobachtung seiner Umgebung gelernt, was als gut und böse, als erlaubt und unerlaubt, als ehrenwert oder verächtlich zu gelten hat. Das ist das, was ich die „kulturellen Selbstverständlichkeiten“ nenne, und wenn es überhaupt eine Chance geben soll, an denen etwas zu ändern, dann muss man sich erst einmal bewusst machen, dass das, was man für „selbstverständlich“ hält, für Angehörige anderer Kulturen keineswegs selbstverständlich sein muss. Erst dann kann diese Differenz überhaupt thematisiert werden, und erst dann läuft man nicht Gefahr, sich immer wieder in eine Hund-Katze-Situation zu begeben. (Hunde und Katzen geraten oft in die sprichwörtlich gewordenen Konflikte, weil sie ihre gegenseitigen Signale missverstehen.)

    Selbst wenn die Theologie sehr flexibel wäre – was ich in Bezug auf den Islam bestreite -, würde eine bloße Änderung der THEOLOGIE noch nicht allzuviel ändern, jedenfalls nicht kurzfristig. Ich weiß nicht, ob Du Max Webers klassische Untersuchung über den Zusammenhang zwischen Protestantismus und Kapitalismus kennst (um ehrlich zu sein: Ich kenne sie auch nur aus Zusammenfassungen; ein Klassiker ist bekanntlich ein Buch, das Alle loben, ohne es gelesen zu haben 😉 ). Weber behauptet darin einen Zusammenhang zwischen der calvinistischen Prädestinationslehre (also dem Glauben, dass die Gnade Gottes sich bereits zu Lebzeiten in materiellem Reichtum zeige) und dem protestantischen Arbeitsethos, dem Geist des Kapitalismus. Soviel ich weiß, vertritt kaum noch ein protestantischer Theologe Calvins harte Version der Prädestinationslehre; aber die kulturellen Einstellungen, die durch diese Lehre hervorgebracht wurden, kannst Du heute noch in den USA oder der Schweiz beobachten.

    Wenn also auch die Theologen flexibel wären (was sie bisher nicht sind) – die gesellschaftlichen Normen sind es nicht.

    Es hat aber seinen Grund, warum die Theologen nicht flexibel sind. Warum etwa tut sich die katholische Kirche so schwer damit, liberalen Forderungen in Bezug auf Zölibat, Frauenpriestertum, Geburtenkontrolle etc. nachzugeben? Nur aus Borniertheit? Nein, sondern weil diese Punkte wichtig für die katholische Kollektividentität sind. Weniger hochgestochen ausgedrückt: Denen würde der Laden um die Ohren fliegen. Beim Islam ist das Problem noch komplizierter, und zwar paradoxerweise gerade deshalb, weil es eben keine Zentralinstanz gibt, die autoritativ entscheiden darf, was islamisch ist und was nicht. Bei den Katholiken kann ein Kurswechsel durch päpstliche Anordnung zustandekommen; bei Muslimen bedürfte es dazu eines Konsenses von Hunderttausenden von Rechtsgelehrten, die sich dafür entscheiden müssten, vieles von dem aufzugeben, was für sie seit 1400 Jahren die unumstößliche Grundlage ihres Glaubens gewesen war. Mal ehrlich: Wie realistisch ist das?

  12. Das neue Testaments des Liberalismus „Wirtschaft und Gesellschaft“ gab (gibt?) es bei Zweitausendeins für nur wenige Euronen. Zwar ist es aufgrund des Sprachstils und des Druckspiegels kein Lesevergnügen, aber es ist immer wieder nett sich bei deisem Alleswisser und Alleserklärer für seine Ansichten ein paar argumentative Ohrfeigen abzuholen. Man sollte ihn aber schon mit einer gewissen Portion Skepsis lesen.

    http://www.textlog.de/7901.html

  13. „Mal ehrlich: Wie realistisch ist das?“

    Noch die letzte Antwort auf deine letzte Frage: Ich weiß es nicht! Aber du hast einen bedenkenswerten Vergleichspunkt in deinem Ausgangsbeitrag bereits genannt. Wenn etwas mit Demokratie unvereinbar ist, so ist es m.E. das hinduistische Kastenwesen (ein zentraler materialisierter und personalisierter Ausdruck der Seelenwanderungslehre), trotzdem schein das moderne städtische Indien einen Weg gefunden zu haben, es „Rückzuvergeistigen“.

  14. Du kannst doch gerade am Fortbestehen des Kastenwesens, wenn schon nicht im positiven Recht, so doch im gelebten indischen Alltag, ablesen, wie tief religiöse Vorstellungen die Normen einer Gesellschaft prägen. Dass es fortbesteht, wäre ein Argument, die indische Demokratie als genauso religiös deformiert anzusehen wie etwa die türkische. Dein Hinweis ist insofern kein Gegenargument, sondern unterstreicht eher, wie wenig die politisch-soziale Entwicklung einer Gesellschaft durch bloße Willensakte – nach dem Motto: ab heute sind wir Demokratie – beeinflusst werden kann. Im Übrigen verstehe ich vom Hinduismus einfach zu wenig, um den jahrzehntelangen stabilen Bestand eines demokratischen Staates hinreichend erklären zu können. Ich habe im Text meine Vermutungen betont defensiv geäußert.

    Ich habe in meiner Überschrift bewusst davon gesprochen, dass der Islam zur Demokratie nicht „passt“ (insofern er die normativen Voraussetzungen des Liberalismus negiert), nicht aber, dass er eine demokratische Staatsform von vornherein unmöglich machen würde. Ich sage, dass er der Errichtung eines demokratischen Gemeinwesens enorm erschwert. Das Wort „unmöglich“ wäre Ausdruck einer monokausal-dogmatischen Logik, und ich bin jeglichem Dogmatismus abhold.

    Überhaupt sollte ich vielleicht ein paar Worte zu meiner Denkweise sagen: Gesellschaften sind zu komplex strukturiert, als dass man sie theoretisch restlos erfassen könnte. Wenn ich also einen Ausschnitt aus der sozialen Wirklichkeit – in diesem Falle die Wirkung der Religion auf soziale Normen – untersuche und darauf aufmerksam mache, dass dieser Ausschnitt von so grundlegender Bedeutung ist, dass man die Wirklichkeit nicht erfassen kann, wenn man ihn ausblendet, so sage ich doch damit NICHT, dass dies der EINZIGE relevante Sachverhalt wäre, oder dass jeder andere Ausschnitt – z. B. wirtschaftliche Strukturen, politische Traditionen, historische Erfahrungen, soziale Konflikte, Bildungsgrad einer Gesellschaft – deswegen irrelevant sei. Die ganze Denkweise „Alle Geschichte ist…“ ist mir vollkommen fremd.

    Wenn ich also darauf hinweise, dass die türkische Demokratie durch den Islam deformiert ist, dass die iranische sich nicht entfalten kann, weil Liberalismus und Koran unvereinbar sind, dann geht es mir darum, einen Sachverhalt bewusst zu machen, der sonst regelmäßig übersehen wird, der aber sowohl außenpolitisch wie auch innenpolitisch bedeutsam und wichtig ist. Was ich damit NICHT behaupte, ist, dass etwa die Jahrzehnte des türkischen Säkularismus keine Spuren in der Gesellschaft hinterlassen hätten. Die demokratischen Elemente der iranischen Verfassung sind auch nicht einfach schmückendes Beiwerk, und die Frage, wie sie dort hineingekommen sind, welche Bedeutung sie haben und ob es noch Entwicklungsmöglichkeiten gibt, ist eine durchaus interessante Frage.

    Nur im HIER vorliegenden Zusammenhang interessieren solche Fragen mich eben nicht, weil es hier darum geht, den Islam als Ganzes auf einer relativ hohen Abstraktionsebene zu analysieren, d.h. unter Absehung von nationalen oder konfessionellen Besonderheiten. Und da komme ich zu dem Ergebnis, dass der Islam ein HEMMENDER Faktor für Toleranz und Demokratie ist, und zwar vom Grundsatz her, nicht erst in seiner islamistischen Version. Und dieses theoretisch gewonnene Ergebnis deckt sich mit dem empirischen Befund, dass es unter den über fünfzig islamischen Ländern der Welt kaum eine Handvoll Demokratien gibt, und dass diese Demokratien – freundlich formuliert – höchst unvollkommen, jedenfalls weit davon entfernt sind, westlichen Maßstäben zu genügen.

    Die Frage ist auch von großer innenpolitischer Relevanz: Wir haben ja in unserer Gesellschaft eine Tendenz zur Selbst-Islamisierung, also zur Tolerierung islamischer Normen und Wertvorstellungen auch dort, wo sie mit den Grundwerten einer liberalen Demokratie offensichtlich unvereinbar sind. Wenn etwa islamischer Religionsunterricht an Schulen angeboten werden soll, dann ist es eine GRUNDLEGEND WICHTIGE Frage, ob diese Religion als solche demokratiekompatibel ist oder nicht. Da genügt es nicht, dass der Imam nicht zum Terrorismus aufruft – wenn er zugleich genau die intolerante, militante, theozentrische, antidemokratische, frauenfeindliche, christenfeindliche und antisemitische Ideologie vermittelt, die wesenhaft zum Islam gehört, und die den Islamisten erst ihre theoretische Basis liefert.

    Was das Wesenhafte, den Wesenskern angeht, so habe ich in meinem gestrigen Kommentar noch eine wichtige Anmerkung vergessen: Du hattest ja argumentiert, so etwas wie den Wesenskern einer Religion gebe es nicht, bzw. er sei variabel, und hattest darauf hingewiesen, dass das Christentum sich über die Jahrhunderte doch auch sehr stark verändert habe. Letzteres ist zweifellos richtig, und überhaupt ist innerhalb des Christentums seit der Reformation ein enormer religiöser Pluralismus entstanden, der nach einer jüngeren Zählung nicht weniger als 34.000 Glaubensgemeinschaften – von der 10-Mann-Sekte bis hin zur römischen Kirche – umfasst. Die vertreten in der Tat höchst unterschiedliche Theologien – aber KEINE EINZIGE bestreitet, dass Christus der Sohn Gottes war, oder rückt vom trinitarischen Gottesbild ab. Warum? Weil DIES das Kriterium ist, das eine Theologie als christlich (oder eben nichtchristlich) ausweist. Ich werde langsam müde zu wiederholen, was Dir jeder religiös bewanderte Muslim bestätigen wird: dass dieses Kriterium im Islam die absolute Gültigkeit des Koran ist.

  15. Manfred,

    die Bibel als 1:1 Gotteswort wurde doch auch von der katholischen Kirche bis in die Neuzeit hinein vertreten. Das Problem um das Kopernikanische System beruhte doch letztlich darauf, dass es den Bibelversen (noch dazu altes und nicht neues Testament!) Josua 10.12-13 widersprach:

    12 Damals redete Josua zum HERRN, [und zwar] an dem Tag, als der HERR die Amoriter vor den Söhnen Israel dahingab, und sagte vor den Augen Israels: Sonne, stehe still zu Gibeon, und Mond, im Tal Ajalon!

    13 Da stand die Sonne still, und der Mond blieb stehen, bis das Volk sich an seinen Feinden gerächt hatte. Ist das nicht geschrieben im Buch Jaschar? Die Sonne blieb stehen mitten am Himmel und beeilte sich nicht unterzugehen, ungefähr einen ganzen Tag lang.

    http://www.biblegateway.com/passage/?search=Joshua%2010-12&version=54;

    Der Islam befindet sich in einer aehnlichen Lage, wie die katholische Kirche vor Luther. Das Gotteswort gilt als absolut und woertlich richtig, gleichzeitig liegt es in einer Sprache vor, die von sehr vielen Glaeubigen nicht oder nur ansatzweise verstanden wird. Meines Erachtens gehoeren das Abruecken von der woertlich zu verstehenden Offenbarung und die Uebersetzung zusammen. Der Knackpunkt des Christentums ist immer noch die Offenbarung (nicht mehr woertlich zu verstehen) und der Gottessohn.

    Auch der Islam besitzt mE in der Gestalt des Propheten einen zweiten Knackpunkt. Der Ruf des Muezzins lautet nicht: „Allah ist Gott und der Koran ist seine Botschaft“, sondern „und Mohammed ist sein Prophet“. Der Prohpeht ist der Vermittler der Gottesbotschaft, von da waere ein Spalt offen, auch die Vermittlung als historisch bedingt zu erfassen.

  16. Ich stelle mit Interesse fest, dass die entschiedenste Verteidigung des Islam ausgerechnet von einer israelischen Hardlinerin kommt. Ach, wenn die Muslime das doch nur wüssten! Und mehr noch: Wenn sie es doch nur ZU SCHÄTZEN wüssten! 😀

    Die Debatte dreht sich allmählich im Kreis; ich glaube eigentlich, alle wesentlichen Argumente auf den Tisch gelegt zu haben. Deshalb fasse ich nur kurz zusammen:

    Selbst WENN ich davon ausgehen würde, dass der Islam sich weiterentwickeln könnte, würde dies doch nichts daran ändern, dass wir uns mit DEM Islam auseinandersetzen müssen, der tatsächlich DA ist, und nicht mit einem, der vielleicht theoretisch MÖGLICH ist.

    Und selbst WENN die Islamgelehrten ab heute eine ganz andere – demokratische, tolerante – Theologie vertreten würden, würde sich die Mentalität, die eben vom bisherigen Islam geprägt ist, erst mit einigen Generationen Verzögerung ändern (bei Muslimen, die im Westen leben, würde wahrscheinlich eine einzige Generation genügen – immer vorausgesetzt, dass sich nicht nur die Theologie ändert, sondern dass auch eine tatsächliche Integration in die westliche Gesellschaft stattfindet.)

    Dass Mohammed nur der VERKÜNDER der Gottesbotschaft ist, ändert an dieser Botschaft – dem Koran – nichts. Allenfalls könnte dies zu einer Relativierung des Hadith führen – was allerdings zugegebenermaßen insofern ein Fortschritt wäre, als es der Koranauslegung größere Spielräume öffnen würde.

    Empirisch ist es in der Tat so, dass die Kirche sich lange Zeit an die 1:1 Auslegung der Bibel gehalten hat. Aber dies keineswegs hundertprozentig: Die Reformation stützte sich bekanntlich auf den Vorwurf, die katholische Kirche würde die Bibel verfälschen. Luther war insofern sogar wesentlich „fundamentalistischer“ als die katholische Kirche. Nur führte die Reformation von ihrem Ausgangspunkt – „sola scriptura“ – geradewegs zur Relativierung der Schrift und zur kritischen Bibelexegese. Der Grund dafür liegt darin, dass die Bibel selbst eine wörtliche Auslegung ad absurdum führt: Zum einen durch ihren Inhalt, da die Gebote Jesu eben nicht wörtlich, also als Handlungsanweisungen zu verstehen sind (wie in Teil I gezeigt); man kann sie gar nicht so verstehen, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln. Zum anderen durch den Umgang des NT mit der jüdischen Überlieferung („Ich aber sage Euch…“), deren Verbindlichkeit deutlich eingeschränkt ist. Und zum dritten dadurch, dass das NT selbst sich an keiner Stelle selbst als Gottes eigenes Wort beglaubigt: Als Gottes Wort gelten allenfalls die Jesus selbst zugeschriebenen Zitate, aber wir hatten ja schon in den Kommentaren zu Teil I gesehen, dass man zwischen dem Wort Jesu und dem Kommentar des Evangelisten problemlos unterscheiden kann. ALLE Teile des NT werden AUSDRÜCKLICH jeweils einem Verfasser zugeschrieben, und nicht etwa Gott selbst. Natürlich gibt es Fundamentalisten, die trotzdem an die Verbalinspiration der Bibel glauben, aber die verstricken sich in die Paradoxie, dass die Bibel selbst dem widerspricht. Die kritische Lesart der Bibel hat ihre Basis in der Bibel selbst und ist keineswegs nur eine modernistisch-liberale Marotte. Der Koran dagegen beglaubigt sich selbst als Gottes unmittelbares, vollkommenes, endgültiges und unhinterfragbares Wort. Das Wesen der Bibel ist die Paradoxie, das des Korans die Eindeutigkeit. Muslime werten das, wie im Text erwähnt, als Stärke – tatsächlich ist es eine Schwäche. Der Koran ist zirkulär strukturiert – es führt kein Weg aus diesem System hinaus, und es wäre eine eigene Untersuchung wert (die ich erwogen, aber nicht durchgeführt habe), wie eine islamische Erkenntnistheorie aussehen würde. Er ist ein geschlossenes Gedankensystem, die Bibel ein offenes.

  17. Du hast Recht, Manfred, was die den derzeitigen „mainstream“ Islam angeht. Ich wollte nur fuer kuenftige Entwicklungen etwas mehr Optimismus zulassen.

    Die Verteidigung des Islams gerade durch mich hat natuerlich ein paradoxes Geschmaeckle, aber eigentlich sollte klar sein, wie ich dazu komme:

    Das orthodoxe Judentum (dem ich nicht angehoere, fuer das ich aber viel Sympathie habe) ist in vielerlei Hinsicht dem Islam naeher als dem Christentum. Fast alles, was Du zum Islam festgehalten hast, koennte auch dem orthodoxen Judentum attestiert werden. Und trotzdem behaupte ich, dass das orthodoxe Judentum nicht nur mit Demokratie vereinbar ist, sondern ihr tatsaechlich deutlich Vorschub geleistet hat.

  18. Vielleicht interessiert es Dich, wie das orthodoxe Judentum mit der Schwierigkeit umgeht, dass die gesamte Thora, die schriftliche (5 Buecher Moses) und die muendliche (das gesamte Regelwerk der Halacha) am Sinai offenbart wurden, also ebenfalls absolute Offenbarung ist:

    Die Tradition ist, dass die Thora zuerst in einer Flammenschrift in goettlicher Sprache am Himmel erschien. Sie musste dann in die Sprache der Menschen uebersetzt werden.

  19. Mit dem Problem, dass man den Islam in mancher Hinsicht nicht kritisieren kann, ohne die jüdische Orthodoxie implizit mitzukritisieren, habe ich mich in meinem Beitrag vom 28.09.07 auseinandergesetzt („Christentum, ‚Islamophobie‘, Antisemitismus“):

    „Da aber jüdische und islamische Theologie viele Gemeinsamkeiten aufweisen, liegt es in der Natur der Sache, dass manche theologischen Argumente gegen die eine Religion auch gegen die andere gewendet werden können. Der zentrale Vorwurf der Islamkritiker aber, ohne den alle anderen bedeutungslos wären, ist einer, der das Judentum nicht trifft und auch nie erhoben worden ist, jedenfalls nicht von einem christlichen Standpunkt. Er lautet, dass der Islam die Pflicht jedes Menschen proklamiert, Muslim zu sein, und die Pflicht jeder Gesellschaft, in der Muslime leben, sich den Geboten des Islam zu unterwerfen. Und damit auch das Recht der Muslime, diese Unterwerfung gewaltsam zu erzwingen. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Religion nicht nur in sich undemokratisch ist, sondern auch eine Gefahr für die demokratische Gesellschaft darstellt.“

    Korrigiere mich bitte, wenn ich etwas Falsches sage, aber meines Wissens vertreten orthodoxe Juden nicht den Standpunkt, alle Nichtjuden seien von Gott verdammt und die ganze Welt müsse jüdisch werden. In seinem universalistischen Anspruch ist der Islam dann doch der christlichen Religion ähnlicher als der jüdischen. Oder?

    „Und trotzdem behaupte ich, dass das orthodoxe Judentum nicht nur mit der Demokratie vereinbar ist, sondern ihr tatsächlich deutlich Vorschub geleistet hat.“
    – Diese These überrascht mich denn doch, und ich bitte Dich, sie zu begründen.

    Es ist ja ganz unbestritten, dass viele jüdische Intellektuelle einen erheblichen Beitrag zu Aufklärung, Liberalismus und Demokratie geleistet haben – so sehr, dass der „jüdische Liberalismus“ zu einem stehenden Begriff antisemitischer Propaganda werden konnte und die reaktionäre Rechte den gesamten Liberalismus, ja die Aufklärung schlechthin als ein jüdisches Projekt dargestellt hat.

    Nur: Waren diejenigen Juden, die sich dem Liberalismus, später auch der Sozialdemokratie zugewandt haben, mehrheitlich orthodox? War es nicht eher so, dass der Liberalismus, indem er die Religion zur Privatsache machte, den Minderheitenstatus der europäischen Juden relativierte (und dadurch attraktiv war), gerade dadurch aber einer Assimilation Vorschub leistete, die von der Orthodoxie eher mit Misstrauen beäugt wurde?

  20. Der universalistische Anspruch des Islams (und des Christentums) geht ueber das Selbstverstaendnis des Judentums hinaus. Ich habe dazu auch mal etwas geschrieben:

    „Weil das Judentum die Reste des Stammeskonzepts bewahrte, verzichtete es weitgehend auf Missionierung. Wenn Gott gleichzeitig die einzige und universale Gottheit und der Stammesgott eines Volkes ist, dann bedeutet das, dass fuer andere Staemme/Voelker gleichwertige Wege zu Gott existieren muessen. Ethischer Monotheismus, nicht weltweites Judentum ist die Vision des Judentums.“

    http://beer7.wordpress.com/2007/03/20/vom-heidentum-zum-monotheismus-mehr-religionsphilosophische-splitter/#more-189

    Nein, ich meine nicht, die Juden, die sich in liberalen Parteien engagierten.

    Ich beziehe mich auf die innere Verfassung der juedischen Gemeinden, die weitgehend demokratischen Prinzipien folgt und das auch in Zeiten und Umfeldern, wo demokratische Ideen nicht florierten.

    Das Judentum kennt keine zentrale Autoritaet, sondern der Gemeinde kommt weitgehende Autonomie auch in Fragen der religioesen Praxis zu. Der Rabbiner ist ein Angestellter der Gemeinde. Die Herrschaft geht also ganz klar von den Gemeindemitgliedern aus. Natuerlich wurden darunter lange nur die Maenner verstanden und bestimmt gab es auch viele Faelle, wo nicht „one man – one vote“, sondern das Wahlrecht auf der Grundlage von Besitz und/oder Ansehen bestimmt wurde. Die Gemeindemitglieder waehlen den Gemeinderat, der bestimmt seinen Vorsitzenden. Rabbiner werden durch den Gemeinderat vorausgewaehlt und durch die Gemeinde bestaetigt oder auch nicht. Das ist eine demokratische Verfassung, an der alle Juden, die Mitglieder einer Gemeinde sind, teilnehmen.

  21. Ich habe zwar schon einmal den Titel gehört, aber gelesen habe ich es noch nicht. Klingt interessant.

  22. Der englische Artikel, der oben verlinkt wurde, trifft völlig ins Schwarze. Die Existenz Israles mitten im Herzen des „Hauses des Islam“ ist absout unerträglich für jeden Muslim, weil es die Ideologie des siegreichen, alles-unterwerfenden Islam widerlegt, während es die biblischen Aussagen beweist.
    Damit ist unabänderlich verbunden, daß jeder Muslim Israel zu bekämpfen hat, bis es von der Landkarte verschwunden ist. Vor diesem Hintergrund wird die überwältigende Sinnlosigkeit jeglicher „Verhandlungen“ über die Zukunft in Nahost oder über einen „Friedensprozeß“ überdeutlich. Das Ziel der Vernichtung Israels aufzugeben, hieße für Muslime, ihre Niederlage und die Fehlerhaftigkeit bzw. Unterlegenheit des Korans gegenüber der Bibel anzuerkennen. Das wird niemals geschehen. Der Autor des Artikels meint zwar, daß in der Akzeptanz einer solchen Demütigung eine Chance für den Islam zur Modernisierung bestünde, aber das ist abwegig.

    Es kann nur eine der beiden Sichtweisen sich durchsetzen: die koranische oder die biblische. Der Koran als tatsächlicher Gegenentwurf zur Bibel, der die zentralen Aussagen des Christentums/Judentums aufgreift, um sie ins Gegenteil zu verkehren ( Jesus war nicht Gottes Sohn, Jesus starb nicht am Kreuz, Liebe als Konzept ist nicht existent, Ersatz des Geistes durch Dogmen, Predigen von Gewalt und Verherrlichung des Todes etc.) braucht den immerwährenden Kampf gegen seine beiden Feindbilder Judentum und Christentum – und weiß doch ständig fortlaufend, daß er unterliegt, daß er gedemütigt wird. Was sind schon feige und extrem hinterhältige Attentate, die wahnsinnig menschenverachtend selbstmörderisch durchgeführt werden, gegen die Besetzung eines Landes in wenigen Wochen (abgeshen von manch negativen Begleiterscheinungen)? Von den Erfolgen Israels brauchen wir da noch nicht mal zu reden. Wobei: das Hochziehen der 8-Meter-Mauer ist ein dermaßener Erfolg, wie es nur im Buche steht – und keiner erwähnt es. Passiv die Selbstmordbomber entschärft, halleluja. Die Verächtlichkeit des islamistischen Kampfes (ganz aktuell: Benazir Bhutto) und die Unterlegenheit des politischen Systems ist andauernd evident und demütigt die Muslime – was aber selbstverständlich nicht zu einer Modernisierung dieser Religion führt. Man fragt sich, wieso man sowas vermuten kann.

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