What’s Left II – Linkes und konservatives Denken

Am Ende von „What’s Left“ I habe ich bezweifelt, dass die Linke wieder zur Verteidigung demokratischer und emanzipatorischer Werte zurückfinden kann. Zunächst eine Einschränkung: Natürlich kann jeder Linke sein Links-sein definieren, wie er möchte, auch im traditionellen Sinne von Demokratie, Emanzipation usw. Nur wird die Linke als einigermaßen klar definierbare politische Bewegung das nicht tun.

Es ist doch bezeichnend, dass die erfolgreichsten Politiker der demokratischen Linken, Leute wie Clinton, Blair, auch Schröder, ihre Erfolge einer Politik verdanken, die gerade nicht als „links“ erkennbar ist und deswegen auch mit dem ständigen „Verrats“-Vorwurf der Linken leben muss. Deshalb lohnt es sich, mit Cohen, aber grundsätzlicher, zu fragen: What’s Left?

Dass es eine „Linke“ nur dort geben kann, wo es auch eine Rechte gibt, ist eine Binsenweisheit; linke Identität lebt von einem Gegensatz. Und ich vermute dass es sich dabei nicht um einen Gegensatz der politischen Inhalte handelt (Was vor 150 Jahren ultralinks war, wird heute auch von Konservativen vertreten), sondern um einen des Denkstils, der Einstellung, der Vor-Urteile über das, was die Gesellschaft ausmacht und was sie sein sollte.

Es gibt – wenn wir den Rechtsextremismus mal beiseite lassen – zwei Pole, zwischen denen das politische Denken sich bewegt, nämlich den linken und den konservativen. (Eleganter wäre es natürlich, von „links und rechts“ zu reden; das scheitert leider daran, dass der Begriff „rechts“ durch die linke Propaganda zu einer Art Protofaschismus verteufelt wurde. Das Gegensatzpaar „konservativ und progressiv“ kann ich auch nicht verwenden, weil ich linke Politik ja kritisiere und mich deshalb hüten werde, sie als „progressiv“ zu adeln.) Idealtypisch kann man die beiden Grundansätze so beschreiben:

Das konservative Menschenbild ist pessimistisch. Es geht mit Hobbes davon aus, dass „der Mensch des Menschen Wolf“ wäre, wenn man ihn ließe; und das es deswegen seiner Einbindung in eine Ordnung, d.h. eine strukturierte und differenzierte, auch durch Machtungleichgewichte geprägte Gesellschaft bedarf. Staat, Recht, Hierarchie, Autorität, Sitte, Kultur und Religion bilden demnach eine komplexe Struktur, auf die der Mensch angewiesen ist, wenn er sein Bestes verwirklichen und in einer humanen Gesellschaft leben will. Diese Struktur ist aber jederzeit bedroht durch Ent-Strukturierung, Unordnung, Chaos.

Auf der Ebene der Gesellschaftsanalyse ist für den Konservativen bereits die Existenz von Ordnung als solcher das an sich Unwahrscheinliche und daher Erklärungsbedürftige. Seine Frage lautet, wie die Gesellschaft es fertigbringt, stabil und leistungsfähig zu sein, und – auf der anderen Seite – welche Faktoren diese Stabilität und Leistungsfähigkeit gefährden. Für den Konservativen ist gut, was zur Funktionsfähigkeit der Gesellschaft beiträgt. Sein Ansatz ist funktionalistisch.

Und damit das genaue Gegenteil des linken, des herrschaftskritischen Ansatzes. Der linke Ansatz bestreitet grundsätzlich und ohne Rücksicht auf Funktionalität die Legitimität jedes gesellschaftlichen Machtungleichgewichts: zwischen Reich und Arm, Staat und Gesellschaft, Herrschenden und Beherrschten, Stadt und Land, Mann und Frau, Zentrum und Peripherie, Mehrheit und Minderheit. Da solche Ungleichgewichte aber zu einem erheblichen Teil gerade die Struktur, also die Ordnung der Gesellschaft ausmachen, nimmt der linke Ansatz genau das aufs Korn, worauf es dem Konservativen ankommt. Der Linke setzt die Existenz von Ordnung schlechthin als Selbstverständlichkeit voraus und stellt nur die Frage nach der Gerechtigkeit und damit Legitimität der jeweils konkreten Ordnung – mit regelmäßig negativem Ergebnis: Die bestehende Ordnung beruht auf Machtungleichgewichten, und die sind zu beseitigen. Punkt. Das Programm der Linken tendiert daher regelmäßig zur Entstrukturierung und Entdifferenzierung der Gesellschaft.

Die Linke glaubt, sich dass leisten zu können, weil sie den Menschen für prinzipiell gut hält. Wenn die Wirklichkeit das Gegenteil nahezulegen scheint, so liegt das aus linker Sicht an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die den Menschen unterdrücken und korrumpieren: an Kapitalismus, Imperialismus, Faschismus, Armut, Diskriminierung usw. Beseitigt man diese Verhältnisse, so der linke Glaube, dann stellt sich die gute und gerechte Gesellschaft quasi von selbst ein. Dort wo die Linke freie Bahn hatte, ihr Maximalprogramm durchzusetzen, also tatsächlich alle alten Strukturen zu zerschlagen – nicht nur Staat und Eigentum, sondern auch Familie, Religion, nationale Loyalität etc. -, blieb ihr gar nichts anderes übrig, als das von ihr zerschlagene gesellschaftliche Gefüge von oben neu zu errichten – mit dem erwartbaren Ergebnis einer totalitären Diktatur; diese ist nicht das Ergebnis irgendwelcher „Fehler“ oder unglücklicher Zufälle („Wenn doch Lenin länger gelebt hätte…“; „Wenn doch Trotzki sich durchgesetzt hätte…“; „Wenn doch Rosa Luxemburg nicht ermordet worden wäre…“), sondern die zwingende Konsequenz des linken Programms. Die Linke macht keine Fehler, sie hat welche. Ich würde sogar sagen: Sie ist einer.

Natürlich hat die Linke dort, wo sie nicht zur Diktatur gelangte, vieles erreicht, und zwar durchaus in dem von ihr intendierten Sinne der Entstrukturierung und Entdifferenzierung, positiv formuliert also Liberalisierung, Egalisierung, Demokratisierung. Machtungleichgewichte wurden, wenn nicht völlig eingeebnet, so doch gewaltig verringert. Nur waren die Fortschritte, die die Linke erzielte – vom allgemeinen Wahlrecht über die Frauenemanzipation, den breiten Zugang zu Bildungschancen bis hin zur relativ egalitären Einkommensverteilung – alle diese Fortschritte entsprachen den Bedürfnissen eines expandierenden Kapitalismus an Massenkaufkraft, politischer Stabilität, größerem und besser qualifiziertem Potenzial an Arbeitskräften. Der herrschaftskritische Ansatz der Linken konnte sich also auf vielen Feldern durchsetzen – aber eben nur dort und nur so weit, wie die angegriffenen Machtungleichgewichte selbst dysfunktional geworden waren.

Jetzt, wo der Linken endgültig die Illusion vergangen ist, mit ihren Erfolgen den Sozialismus vorzubereiten; wo sie feststellen muss, dass sie die ganze Zeit pour le Roi de Prusse gearbeitet und mit dem Kapitalismus im Bett gelegen hat, hat sie im Prinzip zwei Möglichkeiten:

Sie kann ihren freiheitlichen, demokratischen und egalitären Werten treu bleiben, dann muss sie sich auf den Boden der bestehenden freiheitlichen, demokratischen und egalitären Gesellschaftsordnung stellen und diese unter Berücksichtigung ihrer Funktionslogik fortentwickeln und auch verteidigen. Dann wird sie liberal, in mancher Hinsicht auch konservativ, rückt nahe an den konservativen Pol heran, verliert dabei in jedem Fall ihre spezifische Identität als „Linke“. Das ist der Weg Clinton/Blair/Schröder.

Oder aber sie bleibt links, d.h. herrschaftskritisch, und fährt fort, die Autonomie gesellschaftlicher Teilsysteme zu missachten und und ihr Programm der Entstrukturierung weiterzuverfolgen. Normalerweise haben gesellschaftliche Teilsysteme ihre Eigenlogik: In der Wirtschaft geht es um Profit, in der Politik um Macht, in der Wissenschaft um Erkenntnis, in der Religion um Gott, in der Kunst um Ästhetik usw. Entstrukturierung heißt, diese Eigenlogik zu missachten und die gesamte Gesellschaft auf der Basis spezifisch politischer Wertentscheidungen umzubauen: Begriffe wie „feministische Theologie“ oder „gerechte Sprache“, weisen schon durch die Wortwahl darauf hin, dass es hier nicht um Gott bzw. Kommunikation geht, sondern um die Durchsetzung einer politischen Agenda. Die Nähe zu totalitären Begriffen wie „deutsche Physik“ oder „sozialistischer Realismus“ ist keineswegs zufällig, sondern zeigt an, dass das linke Denken auf die totalitäre Unterwerfung der Gesellschaft hinausläuft. In diesem Sinne ist eine „Theologie der Befreiung“ keinen Deut weniger totalitär als ein „Deutsches Christentum“, und es ist wiederum kein Zufall, sondern Notwendigkeit, dass ein Mann wie Jean-Bertrand Aristide, der seine Karriere als engagierter Armenpriester in den Slums von Port-au-Prince begann, sie als blutrünstiger Tyrann beendete. Das Verhältnis zwischen den Befreiungstheologen und der sie unterdrückenden Kirche ist zweifellos ein Herrschaftsverhältnis. Aber mit ihrem repressiven Konservatismus nach innen schützt die Kirche die Autonomie des Religiösen nach außen, nämlich gegenüber dem Politischen; und trägt dadurch mehr zur Aufrechterhaltung einer freien Gesellschaft bei, als wenn sie dem billigen Liberalismus frönen würde, der von ihr verlangt wird.

Links sein heißt unter den heutigen Bedingungen: den demokratischen Staat noch weiter zu „demokratisieren“, d.h. zu schwächen; die friedlichsten Staaten, die Europa je gesehen hat, noch weiter zu „entmilitarisieren“, d.h. wehrlos zu machen; Gesellschaften, in denen ohnehin schon fast alles erlaubt ist, noch weiter zu „liberalisieren“, d.h. die Verbindlichkeit aller Normen in Abrede zu stellen (z.B. mit Multikulti-Ideologien), bis hin zur Duldung von Kriminalität; auf Deubel komm raus den „Imperialismus“ zu bekämpfen, und sei es im Bündnis mit Bin Laden. Da muss die Wirtschaft „Gerechtigkeit“ gewährleisten, und wenn sie zusammenbricht. Da muss die Sprache, die Wissenschaft, die Religion „politisch korrekt“ sein – zur Hölle mit der Wahrheit -, die Kunst agitieren, auch wenn keiner das mehr sehen oder hören will. Und so weiter und so fort.

Nein, wenn die Linke eine Zukunft haben sollte, dann gnade uns Gott!

10 Gedanken zu „What’s Left II – Linkes und konservatives Denken“

  1. Hallo Manfred,

    ich moechte Dich auf einen kleinen Widerspruch aufmerksam machen:

    Das Menschenbild der Linken ist nur oberflaechlich gesehen so naiv positiv, wie Du es oben beschreibst. Wie Du in dem vorangegangenen Beitrag zum Thema schon festgehalten hast, wird gleichzeitig dem Menschen (Proletariat, Arbeiter usw.) gar nicht zugetraut, richtige Entscheidungen zu treffen. Er muss daher zu seinem Glueck gezwungen werden. Und diese Zwangsherrschaft soll eben von einer linken Elite ausgeuebt werden. Der Mensch ist also nicht von Natur aus gut, sondern allenfalls nach einer Vormundschaft durch linke Eliten von nicht naeher definiertem Ausmass koennen kuenftige Generationen eines neuen Menschen erzeugt werden, die endlich dem angeblichen Naturzustand entsprechen wuerden.

  2. Das ist zweifellos ein Widerspruch, nur: Liegt dieser Widerspruch nicht in der Ideologie der Linken selbst? Meine Argumentation lautet ja gerade, dass dieses naiv positive Menschenbild in den Widerspruch führt, dass der Mensch von der linken Elite zu seinem „Glück“ gezwungen werden muss. (Noch deutlicher habe ich das allerdings in „What’s Left III – „Dialektik der Aufklärung“ ausgeführt).

  3. Manfred,

    mir scheint auch, dass der Widerspruch in der Ideologie selbst liegt. Mir scheint, dass derselbe Widerspruch schon bei Rousseau deutlich wird. Auch sein Konstrukt der „volonte generale“ unterstuetzt eine Diktatur der wenigen ueber die vielen.

    Gilt Rousseau auch als Vater der Linken oder wie wird er eingeordnet?

  4. Da gerate´ich etwas an den Rand meiner geistesgeschichtlichen Kenntnisse, weil ich mich mit Rousseau speziell nie befasst habe. Klar ist, dass er AUCH als einer der geistigen Väter der Linken gilt; auf der anderen Seite gilt er mit seiner Betonung des „Zurück zur Natur“ auch als einer der geistigen Wegbereiter der Romantik, und die tendiert eher zum Konservatismus.

  5. Manfred,

    ob romantische Verklaerung der Vergangenheit und/oder der Natur wirklich mehr zum Konservatismus gehoert, bezweifle ich leise. Denk‘ an die Gruenen oder jetzt an die Klimadebatte.

  6. Ich glaube schon. Die Verklärung des „organisch Gewachsenen“, auch im politischen Bereich, und zwar im ausdrücklichen Unterschied zum von Menschen bewusst Geschaffenen, gehört durchaus zum romantischen Denken. Allerdings gebe ich zu, dass „Romantik“ ein schillernder Begriff ist, den man nicht ohne Weiteres politisch einordnen kann.

    Was die Grünen angeht: Bei denen mischten ganz am Anfang durchaus konservative Figuren wie Herbert Gruhl und Baldur Springmann mit. Die haben sich dann bald abgeseilt, weil sie das Gefühl hatten, dass sehr viele Grüne das Ökothema nur vorschoben, um ihre kapitalismuskritischen Positionen zu untermauern; tatsächlich kamen die meisten späteren grünen Spitzenpolitiker aus dem K-Gruppen- bzw. Spontibereich. Überhaupt lässt sich die konservative Kapitalismuskritik (Bewahrung der Schöpfung, des gewachsenen Charakters von Landschaften etc.) mit der linken Kapitalismuskritik zwar nicht theoretisch, wohl aber praktisch unter einen Hut bringen – wie man gerade an den Grünen erkennen kann.

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